Zugang zum Naturschutzgebiet auf Sylt, Heidekraut, Sand, Weg mit Schild auf dem "Kein Weg" steht.

Kein Pony-Hof

An welchem Punkt der Geschichte stehen wir, wenn „sie jetzt ganz unverholen, wieder Nazi-Lieder johlen, über Juden Witze machen, über Menschenrechte lachen. Wenn sie dann in lauten Tönen, saufend ihrer Dummheit frönen, denn am Deutschen hinterm Tresen muss nun mal die Welt genesen“?

Als ich das Video gesehen habe, das seit Donnerstag durch das Netz jagt und das es sogar bis ins ZDF Heute Journal geschafft hat, musste ich sofort an die Zeilen von Konstantin Weckers Lied „Sage Nein“ denken. Ich habe mich gefragt, wo die waren, die hätten „Nein“ brüllen müssen.

In einer Episode von Harry Potter formuliert der Schulleiter von Hogwarts, Albus Dumbeldore, den wunderbaren Satz:

„Es verlangt einiges an Mut, sich seinen Feinden entgegenzustellen, doch genauso viel, den eigenen Freunden entgegenzutreten.“

Vor einer Woche hat sich scheinbar niemand gefunden, der oder die den Mut hatte, sich der grölenden und Schampus-trunkenden Menge entgegenzustellen. Sie sind stumm geblieben, haben vielleicht innerlich gedacht, dass hier etwas aus dem Ruder läuft. Haben aber nichts gesagt. Und sind wir ehrlich: Es waren viele, die geschwiegen haben. Laut Bar-Besitzer befanden sich rund 300 Gäste auf der Terrasse.

Falls Du nicht im Bilde bist und nicht weißt, worüber ich spreche: Am Pfingstwochenende hat eine „feine Feier-Gesellschaft“ auf Sylt in einem Lokal lauthals rassistische Parolen gesungen. Und – man muss vorsichtig bei der Formulierung sein – zusätzlich besteht der Verdacht, dass der Hiltlergruß gezeigt wurde. Zusammengefasst: Dieses Video hätte genauso gut aus dem Jahr 1933 stammen können. Vielleicht hat man sich damals die Pullover noch nicht so lässig über die Schultern drapiert und vielleicht hat man statt Dom Perignon Rosé andere Getränke zu sich genommen. Aber sonst? 

Der Club-Besitzer äußerte sich in einem Interview zu den Vorfällen und sagte, dass es ihn traurig mache, was passiert sei. Auch, dass man nicht registriert habe, was da vor sich ging. Ich war noch nie im „Pony“ in Kampen auf Sylt, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass niemand von der Belegschaft das mitbekommen hat. Aber selbst wenn dem so ist – es wären genug andere da gewesen, die in der Lage gewesen wären, einzuschreiten.

Und damit sind wir bei einer Frage angelangt, auf die es in den letzten Monaten immer häufiger Antworten gibt: „Wie konnte das damals passieren?“ 

Jeden Tag, wenn ich aus dem Haus gehe, laufe ich an Stolpersteinen vorbei, die in unsere Straße verlegt sind. Nicht weit von uns entfernt ist das berüchtigte Gleis 17, von dem aus 1941 bis 1942 jene, die in unserer Straße gewohnt haben, in Lager deportiert und dort ermordet wurden. Ich stelle mir vor, wie Nachbarn hinter den Gardinen standen, wie sie hinter vorgehaltener Hand über jene, die abtransportiert wurden, tuschelten und wie sie sich dann vielleicht über deren Hab und Gut hergemacht haben. Ob sie vorher auch in einer Bar grölend ihrem Rassismus gefrönt haben?

In den sozialen Netzwerken kann man jetzt viele Stimmen hören oder lesen, die sagen, dass das nur geltungsgeile, dumme Leute waren, die keine Ahnung davon hatten, dass sie sich damit strafbar machen. Wer sonst wäre so blöd, das auch noch ins Netz zu stellen?

Ich widerspreche dieser Ansicht und behaupte, dass wir an einem Punkt angelangt sind, an dem gesamtgesellschaftlich immer häufiger die Masken fallen. Die Giftwirkung, die Victor Klemperer meinte, wenn er davon schrieb, dass Worte wie winzige Arsendosen sein, hat längst eingesetzt.

Die AfD und Teile der Konservativen haben ein Klima geschaffen, indem es nicht nur wieder denkbar ist, Menschen, die nicht deutscher Herkunft sind, als minderwertig zu betrachten, sondern in dem auch ganz konkrete Pläne geschmiedet werden, wie man dieses Land wieder „säubert“. 

Mit dem Video von Sylt schmilzt auch die Vorstellung dahin, dass es die minderbemittelten, biertrinkenden Neonazi sind, die Remigrationspläne mit ihren Springerstiefeln in den Asphalt hämmern. Sie sind Teil des Ganzen, aber wer in der Geschichte zurückschaut, wird erkennen, dass es damals auch eher die vermeintlichen Eliten waren, die die Verfolgung der Juden wenn vielleicht nicht beklatschten, dann doch aber mit stiller Zustimmung geschehen ließen. Dazu ein kleiner Auszug aus dem Essay von Prof. Dr. Dr. Pohl „Der Weg zum Holocaust“:

„Entscheidend für die Entwicklung antijüdischer Stereotypen im 19. Jahrhundert war der sozioökonomische Aufstieg der jüdischen Bevölkerung in den west- und zentraleuropäischen Gesellschaften, von einer Randgruppe in den Mittelstand und teilweise sogar in die Eliten. Dieser Aufstieg war durch die rechtliche Emanzipation einerseits als auch durch die Veränderungen der Industrialisierung möglich geworden. Juden galten nun als Konkurrenz, etwa in Freien Berufen wie der Rechtsanwaltschaft oder der Medizin, das vermeintlich „jüdische Finanzkapital“ wurde für Krisen und Ausbeutung verantwortlich gemacht.“

Es gibt ja Menschen, die behaupten, dass wir uns schon genug mit unserer Geschichte befasst haben. Dass – insbesondere die Zeit die Nationalsozialismus – ausreichend durchleuchtet und behandelt wurde. Auch das sehe ich anders. Ich denke, dass das, was auf Sylt passiert ist, nur die Spitze des Eisbergs ist, der schon lange Kurs auf unsere freiheitlich demokratische Ordnung und auf unser kulturelles und gesellschaftliches Miteinander nimmt. Für „Wehret den Anfängen“ ist es zu spät. 

Darum mein heutiger Appell: Sage Nein. Nimm Dir Albus Dumbledores Satz zu Herzen und stelle Dich notfalls auch Deinen Freunden entgegen. „Nie wieder“ sollte/darf keine Floskel sein.