Heute bin ich spät dran oder ziemlich früh – es ist wie so oft eine Frage der Perspektive. Normalerweise schreibe ich meinen Newsletter freitags, jetzt ist es Samstagmorgen. Draußen ist es noch dunkel und die Geräusche um mich herum beschränken sich auf ein Minimum. Das Knacken des Wasserkochers, der abkühlt (ich sitze in der Küche um niemanden zu stören), die Töne meiner Tastatur, wenn die Finger die Buchstaben und Befehlstasten berühren.
Ich liebe solche Morgen. Als Kind war ich (sehr zum Gram meiner Eltern) immer ziemlich früh wach. Eine Lerche eben, die es schätzt, gemeinsam mit den Vögeln den Tag zu begrüßen. Weil das, zumindest am Wochenende, nicht so gut ankam, habe ich mir irgendwann Beschäftigungen gesucht, um die Zeit zu füllen, bis ich die Eltern wecken durfte.
Eine war, mich in aller Herrgottsfrühe beim Bäcker anzustellen, um frische Brötchen zu kaufen. Dazu muss man wissen, dass dort, wo wir gewohnt haben, einer der besten Bäcker der Stadt seine Waren anbot. Ich war nie die erste, die die Schlange anführte. Selbst wenn es wirklich verdammt früh war und gerade mal ein paar wenige Vögel zwitscherten. Der Lohn des Stehens waren in meiner Erinnerung die köstlichsten Brötchen der Welt. Und – und darum ging es eigentlich primär – ein Schweineohr der Extraklasse. Ein aus Blätterteig geformtes Teilchen mit ordentlich Zuckerguss obendrauf, das den Weg bis zur Haustür nie überlebt hat.
Eine andere Strategie des Zeitvertreibs war Lesen. Passend zu meiner Bettflucht gab es ein Buch, dessen Titel ich leider nicht mehr weiß. Hauptprotagonist war ein Jungen, der durch die Stadt lief, während sie erwachte. Das, was Peter Fox viele Jahre später in „Schwarz zu Blau“ besungen hat, war dort auf vergilbten Seiten zu sehen, denn das Buch hatte seine besten Zeiten schon hinter sich.
Trotzdem habe ich es mit der immer gleichen Begeisterung durchgeblättert und dass ich längst wusste, was passiert, hat mich nicht gestört. Stets wie beim ersten Mal bin ich dem Jungen auf seinem Weg gefolgt. Habe ihn zum Gemüsehändler, zum Bäcker, zu den Müllmännern und zu anderen Werktätigen begleitet, die früh am Morgen schon arbeiteten, während andere noch schliefen.
In Wahrheit gab es natürlich diese Romantik, die ich jetzt in das Buch interpretiere, nicht. Es war in den 60-er Jahren der DDR verlegt und hatte zum Ziel, die Idee des „Neuen Menschen“ schon an Kinder zu bringen. Und so waren die Protagonisten des Buches gestählte, schlanke Menschen, die ohne Mühe ihre Arbeit für den Aufbau des Sozialismus verrichteten.
Der Neue Mensch war eine Idee aus der Sowjetunion, eine Art „Erlösungsschema“, wie Albrecht Betz mal in einem Beitrag für den Deutschlandfunk treffend formulierte. Ein totalitärer Ansatz, der in das Bildungssystem der DDR übernommen wurde und aus kleinen Kindern sozialistische Roboter machen sollte. Im Kern ging es um die „allseitig entwickelte Persönlichkeit“.
Aber das habe ich damals natürlich noch nicht gesehen, als ich mich morgens gemeinsam mit dem Jungen auf den Weg gemacht habe. So, wie wir vieles erst in der Rückschau erkennen. Das Leben, wie der dänische Philosoph Søren Kierkegaard sagte, zwar vorwärts leben, aber nur rückwärts verstehen können.
Und damit sind wir bei meiner heutigen Empfehlung angekommen, einem recht aktuellen Buch von Anne Rabe. Es heißt „Die Möglichkeit von Glück“. Wenn Du in der DDR oder anders sozialistisch geprägt aufgewachsen bist, dann wird dieses Buch Dir viel erklären. Ich will gar nicht so weit vorgreifen, denn ich werde noch eine ausführliche Rezension dazu schreiben. Für heute nur so viel: Diese Umerziehung verlief in vielen Familien und in Bildungseinrichtungen gewaltvoll. Und wir können sicher sein, dass sie nicht nur Auswirkungen auf jene hatte, die sie erlebt haben, sondern auch auf nachfolgende Generationen.
Wenn wir uns also fragen, woher die Wut und woher der Rechtsruck kommen. Wie diese Entmenschlichung, die derzeit wieder hochkommt hochkommt, entsteht, dann liegt eine Antwort sicher auch darin begründet. Das, was Johanna Haarer mit ihrer Schwarzen Pädagogik im Nationalsozialismus eingeläutet hat, hat der Sozialismus auf seine Art fortgesetzt. Eine Erziehung mit Härte, die aus frei denkenden Kindern, „neue Menschen“ macht, die wie gleichaussehende Puppen vom Band laufen.
Und während ich sie vor mir sehe, zeigt sich draußen vor dem Fenster ein versöhnlicher heller Streifen über den Dächern. Ich werde das Fenster öffnen, um die Vögel zu hören.