Ein Amselahn sitzt in einem Busch. Man sieht ihn von der Seite. Er ist schwarz und hat einen gelben Schnabel und ist Titelbild der Geschichte Gießkann und Möglichkeiten

Alle Vögel sind schon da

Es ist Sonntagmorgen. Sehr früh am morgen. Eigentlich zu früh, um aufzustehen. Benommen stehe auf, reibe mir den Schlaf der letzten Nacht aus den Augen und gehe in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. Schlaftrunken lehne ich am Fensterrahmen. Hinter mir sprudelt das Wasser, bis der Wasserkocher durch ein Knackgeräusch anzeigt, dass er seine Arbeit erledigt hat.

Ich schaue in den Himmel. Trübe graue Wolken hängen über Berlin. Die Dächer glänzen, obgleich der Regen sich  bereits verzogen hat. Ich überlege noch, was man mit so einem Tag anfängt, da gleitet plötzlich ein großer Schatten durch das trübe Bild. Ich erkenne ihn sofort. Es ist ein Graureiher. Wahrscheinlich DER Graureiher. Mein Graureiher. Mein Herz hüpft vor Freude, die Müdigkeit ist vergessen und selbst das Teewasser bleibt unberührt im Kocher. Schnell schlüpfe ich in meine Laufsachen und stürze hinaus in den feuchtkalten Morgen.

Es ist März. Der Winter, der kein richtiger war, plustert sich noch einmal auf und schickt einen eisigen Wind durch die Straßen. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke bis unter das Kinn zu, dann trabe ich los Richtung Park. Weit muss ich nicht traben, noch eine Durchfahrt, dann breitet sich das Stadtgrün vor mir aus.

Aufgeregt bewege ich mich Richtung Ententeich und während meine Füße vorbei an Pfützen über morastige Wege patschen, versuche ich mich zu erinnern, wann ich den Graureiher das letzte Mal hier gesehen habe. War es November oder schon Dezember? Fliegen Graureiher eigentlich in den Süden? Ich nehme mir vor, zu Hause gleich nachzulesen, aber erst einmal will ich ihn aus der Nähe sehen.

Ich kann mich gut erinnern, wie überrascht ich war, als er plötzlich hier auftauchte. Wer rechnet schon damit, dass sich mitten in einem quirlig lauten Großstadtpark ein Graureiher niederlässt? Noch dazu als Einzelgänger. Wahrscheinlich hat ihn das reichhaltige Angebot an Goldfischen, die im Schwarm ihre Runden durch den Ententeich ziehen, angelockt. Jedenfalls stand er eines Tages an der Uferböschung. Regungslos wie eine Statue. Man erkannte ihn kaum inmitten des Schilfes. Majestätisch elegant neigte er den Kopf und dann – blitzschnell – stieß er den Schnabel in das Wasser. Für den zappelnden Fisch gab es kein Entkommen.

Als Kind wollte ich Ornithologin werden. Ich hatte keine Vorstellung davon, was man als Ornithologin so macht. Ich glaubte nur, dass man sich von morgens bis abends mit Vögeln beschäftigen kann. Und genau das wurde zum Problem. Wer sagt schon gern, ohne rot zu werden: „Ich beschäftige mich gern mit Vögeln.“? Noch dazu als junges Mädchen. „Ich habe eine Leidenschaft für Vögel.“, klang kaum weniger verfänglich.

Und doch traf es den Kern. Ich sammelte Bücher, kaufte mir eine Schallplatte mit Vogelstimmen, wünschte mir einen Feldstecher und entwickelte eine aufrichtige Freude daran, Vögel zu beobachten, sie zu bestimmen oder sie an ihrem Gesang zu erkennen. Ich wurde Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft „Junge Ornithologen“. Man traf sich alle 14 Tage Montagabend in der Nähe vom Bahnhof Lichtenberg. Jung war da leider keiner außer mir. Auch diente das Treffen eher der Geselligkeit.  Die älteren Herrschaften umhüllten sich mit Fremdwörtern und Statistiken und planten ihre Ausflüge stets zu Zeiten, wo ich dem Gesang von Lehrern lauschen musste. Noch dazu kam ich langsam in ein Alter, wo der Balzruf des anderen Geschlechts weitaus verlockender, als der eines Amselhahnes klang. Und so versiegte die Leidenschaft an theoretischer Vogelkunde nach und nach und mit ihr der Wunsch, eine Ornithologin zu werden.

Während mich meine Füße näher an den Ententeich tragen und ich sicherheitshalber suchend den Himmel fixiere, fallen mir all die Vogel-Geschichten ein, die ich schon erlebt habe. Das sind nicht gerade wenig, denn – auch wenn sich das mit dem Berufswunsch der Ornithologin erledigt hatte – was blieb, war die ungebrochene Freude an den gefiederten Gesellen. Das gipfelte in der Konsequenz in der Sehnsucht nach einem Haustier. Ich stellte mir eine Dohle vor, weil ich gelesen hatte, dass die besonders klug sind und sprechen lernen können. Nun sind Dohlen ja nicht gerade das typische Haustier. Also entschieden meine Eltern, dass ein Wellensittich angemessener sei. Und so zog Bubi bei uns ein. Grün war er. Sprechen hat er nicht gelernt. Irgendwann kaufte ich ihm ein Weibchen. Biene. Offiziell, damit er nicht allein ist, inoffiziell hoffte ich natürlich auf reichlich Nachwuchs. Als auch der ausblieb, wünschte ich mir ersatzweise einen Nymphensittich. Doch da streikten meine Eltern.

Also stand ich fast täglich mit großen, sehnsuchtsvollen Augen vor den Käfigen der Zoohandlung „Aquarium“ in der Schönhauser Allee. 49,00 DDR-Mark sollte damals das Objekt meiner Begierde kosten. Ein Vermögen. Irgendwann hatte ich das Geld zusammen und den Mut, meine Eltern zu belügen. Ich kaufte den Sittich und ließ ihn zu Hause fliegen. Kurz bevor meine Mutter kam, öffnete ich mit klopfendem Herzen die Balkontür. Der Plan war einfach. Alles deutete darauf hin, dass der Vogel uns zugeflogen war. Ich fand mich genial. Meine Mutter fand mich verlogen. Trotzdem durfte ich den Vogel behalten. Er machte ordentlich Dreck, war laut und zerfraß Gardinen. Es ist beachtlich, was Eltern ihren Kindern zuliebe ertragen.

Ich überquere die eine kleine Straße. So lange wohne ich nun schon hier, kenne die Gegend, kenne den Park in- und auswendig. Bevor der Graureiher das erste Mal hier auftauchte, waren die Kleiber meine liebsten Beobachtungsobjekte. Es ist einfach lustig, ihnen dabei zuzuschauen, wie sie die Bäume schräg hoch und genauso schräg herunter laufen. Immer den Kopf nach unten. Ursprünglich dachte ich, der Name Kleiber kommt daher, weil sie so gut am Baum „kleben“ und bei ihren Turnübungen nicht abfallen. Stimmt nicht, wobei die Wahrheit nicht so weit davon entfernt liegt. Kleiber verkleben die Höhlen anderer Baumbrüter mit Lehm und zwar genau soweit, dass nur noch sie hindurch passen. Das sichert ihnen den Nistplatz und schützt vor Nesträubern.

Denn auch davon gibt es im Stadtpark genug:  Nebelkrähen, Aaskrähen und Elstern. Vor ein paar Jahren hatten wir so viele davon, dass ich im Bezirksamt angerufen habe, um mich zu erkundigen, ob es irgendjemanden gibt, der das Anwachsen der Populationen kritisch überwacht. Ich sorgte mich um die Singvögel, die von den Krähenvögeln vertrieben werden. Es ist mir nicht gelungen, einen Verantwortlichen ausfindig zu machen. Mittlerweile scheint die Natur das Problem selbst gelöst zu haben, denn die Anzahl der listigen Räuber ist wieder deutlich zurückgegangen. Und mittlerweile weiß ich auch, dass einige Krähenarten hier nur auf Durchreise sind und im Frühjahr wieder weiterziehen.

Neben mir raschelt es im Laub. Ein schwarzes Amselmännchen durchwühlt das Unterholz nach Insekten oder Würmern. Ich trabe kurz auf der Stelle, um dabei zuzusehen, wie der kleine Kerl kopfschüttelnd das alte Herbstlaub in alle Himmelsrichtungen verteilt. Der gelbe Schnabel hebt sich gut von dem graubraunen Boden ab. Der Vogel ist so beschäftigt mit seiner Futtersuche, dass er mich eine ganze Weile lang nicht bemerkt. Doch plötzlich unterbricht er, schaut mich mit großen Augen an und fliegt laut schimpfend davon. Ich mag Amseln. Was gibt es Schöneres, als an einem lauen Sommerabend auf dem Großstadtbalkon zu sitzen und dem Gesang eines Amselmännchens zu lauschen, das gegenüber auf der Hausantenne wahrscheinlich von seiner Geliebten, von fernen Gefilden und von glücklichen Amselstunden singt.

Natürlich gibt es auch eine Amselgeschichte zu erzählen.

Wie viele andere Vogelarten auch, verlassen Amselküken das Nest in einem Stadium, wo sie noch nicht richtig fliegen können. Sie werden von den Altvögeln auf der Erde weitergefüttert, bis sie es irgendwann schaffen, sich in die Lüfte zu erheben und für sich selbst zu sorgen. Soweit die Theorie, die ich in meiner Arbeitsgemeinschaft junger Ornithologen wohl verpasst hatte. Für mich war jeder Vogel, der „hilflos“ auf der Erde hüpfte, ein Opfer, das nach Rettung schrie.  Und so musste ich damals ohne Frage das kleine braune Federknäuel einfangen, das da so drollig auf unserem Schulhof herumhüpfte.

Zu Hause angekommen, war meine Mutter alles andere als begeistert. Aber sie hatte Mitleid und so durfte Pieps – wie wir ihn sogleich tauften – bei uns wohnen. Ich rannte los, kaufte Mehlwürmer, Pinzette und Pipette und fühlte mich wie eine Heldin. Eine Tiermutti, die selbstlos ein hilfloses Vogelküken aufpäppelt. Meine eigene Mutter hatte zu der Zeit, da Pieps bei uns einzog, gerade einen Gipsfuß und humpelte auf Krücken durch die Wohnung. Arbeiten gehen konnte sie nicht und so blieben die selbstlos zu erbringenden mütterlichen Vogelpflichten an ihr hängen. Pieps dankte es ihr, indem er sie als Vogelmutter akzeptierte und ihr bald auf Schritt und Tritt hüpfend folgte. Fliegen konnte er ja noch nicht.

Dieser kleine drollige Kerl wurde bald der Liebling der ganzen Familie. Er wuchs, seine Flügel wurden kräftig und je näher der Sommer rückte, desto öfter fragten wir uns, wie es wohl sein wird, wenn wir ihn in die Freiheit entlassen. Wohl war uns allen nicht bei dem Gedanken. Keiner von uns mochte sich trennen. Leider entschied das Leben, bevor wir entscheiden konnten. Pieps kam durch einen Unfall ums Leben. Er saß – wie immer, wenn wir alle aus dem Haus waren – in einem Vogelbauer auf dem Balkon. Ein kräftiges Gewitter kam, die kleine Amsel wurde nass und suchte Schutz auf dem Boden des Käfigs. Dort stand aber schon zentimeterhoch das Wasser. Und so ist unser Amselküken vermutlich an Unterkühlung gestorben oder ertrunken.

Ich habe meine Eltern selten so traurig erlebt. Selbst mein Vater konnte die Tränen nicht zurückhalten. Die Trauer über den Verlust war so groß, dass meine Eltern sogar den geplanten Fernsehabend bei Freunden absagten. Es war das Spiel Deutschland gegen Österreich der Fußball Weltmeisterschaft 1978. Dass Deutschland 2:3 verlor und damit in der zweiten Runde rausflog, passte zur Stimmung. Alles andere hätten wir an diesem Tag nicht ertragen.

Mittlerweile bin ich am Ententeich angekommen. Den Graureiher kann ich nirgends entdecken. Ich suche das Schilf ab, den Himmel, die Trauerweiden, die abgezäunte Wiese. Nichts. Kein eleganter Hals, keine staksigen Beine, kein langer Schnabel.  Dafür entdecke ich zwischen den Stockenten, die sich am Ufer des Teiches das Gefieder putzen, eine Mandarinente. Ein schillernd buntes Männchen. Faszinierende Farbenpracht der Natur. Der Anblick tröstet mich ein wenig darüber hinweg, dass sich der Graureiher heute Morgen offensichtlich einen anderen Landeplatz gesucht hat. Ich trippele noch ein wenig auf der Stelle, dann laufe ich gut gelaunt Richtung Heimat. Vorbei an frisch geschnittenen Ästen, munteren Eichhörnchen, die im Unterholz ihre letzten Wintervorräte ausgraben und hinauf auf den Hügel, der im Sommer immer wie ein bunter Flickenteppich aussieht, weil alle Anwohner ihn gern als Sonnenplatz nutzen.

Ein paar Tage später bin ich wieder im Park. Natürlich führt mich mein Weg schnurstracks zum Ententeich. Und diesmal habe ich Glück. Ich sehe ihn schon von weitem. Da steht er. So als wäre er nie weg gewesen. Stolz und majestätisch. Ein wenig schlanker als im letzten Jahr. Und doch genauso schön. Mit seinen langen Schopffedern, den schwarzen Augenstreifen und dem grauen Gefieder, das ihm seinen Namen verleiht. Als ich mich ihm nähern will, breitet er seine Flügel aus, zieht den Kopf in der für ihn typischen Art auf die Schultern und fliegt davon.

Schön, dass es ihn gibt. Schön, dass es in einer Großstadt wie Berlin diese kleinen Oasen gibt. Ein Stück Natur – ein Stück Leben. Nicht so spektakulär und bunt wie ein Dschungel. Aber wenn man genauer hinsieht, offenbart sich doch eine Vielfalt, die man nicht erwartet.  Bald werden die Knospen aufspringen. Dann schieben sich die Blätter wie ein Vorhang zwischen uns und die Vogelwelt. Aber sie sind da. Alle.