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Postfaktischer Aufstieg

Warum die AfD derzeit tr(i)ump(f)-iert

Aktuell sind wir wieder dazu aufgerufen, Wörter vorzuschlagen, damit aus diesen Vorschlägen das Wort des Jahres gewählt wird. 2016 fiel die Wahl auf „postfaktisch“. Die Begründung lautete damals: „Das Kunstwort postfaktisch, eine Lehnübertragung des amerikanisch-englischen post truth, verweist darauf, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen »die da oben« bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der »gefühlten Wahrheit« führt im »postfaktischen Zeitalter« zum Erfolg“.

Zeitgleich zu „postfaktisch“ wurde 2016 „Fake News“ zum Anglizismus des Jahres gewählt. Obwohl der Begriff bereits 1894 in Zusammenhang mit Napoleons angeblicher Flucht nach Florenz in der Zeitschrift American Register Historie auftauchte und später hier und da eher im Sinne von Satire oder bei Falschnachrichten, die man heute mit Clickbaiting assoziierte, Verwendung fand, erlangte er keine größere Bedeutung. Wenn etwas in den Medien falsch dargestellt war, nannte man es früher Falschmeldung, Ente oder Hoax. „Erst im November 2016 schafft „Fake News“ einen plötzlichen und heftigen Durchbruch in den allgemeinen Sprachgebrauch.

Fake News auf neuem Niveau

Inzwischen bezeichnet „Fake News“ nicht nur im Englischen Raum wieder die von Manipulationsabsichten und von Wunschvorstellungen getriebene Propaganda, die schon im Erstbeleg über Napoleons Flucht anklingt – erweitert um den Aspekt der Verbreitung über die sozialen Medien. Ausschlaggebend für diesen Bedeutungswandel waren vorrangig die Wahlkampagne und die Wahl Donald Trumps, die Brexit-Kampagne und der Skandal um Cambridge Analytica.

Wir erinnern uns: Am 22.01.2017 gab Kellyanne Conway, die Chefberaterin Trumps dem Journalisten Charles David Todd ein Interview. Konfrontiert mit den unübersehbaren Fakten und den offensichtlichen Falschbehauptungen Trumps und seines Pressesprechers Sean Spicer im Zusammenhang mit der Amtseinsetzung Trumps, sagte Conway, Spicer hätte nicht gelogen, sondern nur alternative Fakten präsentiert. Darauf Todd: „Alternative Fakten sind keine Fakten. Es sind Unwahrheiten“.

Lügen bis der Arzt kommt

Dass eine Lüge mit dieser Selbstverständlichkeit in aller Öffentlichkeit aus dem Weißen Haus (dem Zentrum der Macht) präsentiert wurde, hob das Lügen auf ein Niveau, das sich moralphilosophisch betrachtet, mit dem Bild der schiefen Ebene vergleichen lässt. Einmal angestoßen, ist der Schaden vorprogrammiert. Dass am 29. August 2020 mehrere Personen aus der Querdenken Bewegung heraus versucht haben, in den Reichstag einzudringen und am 6. Januar 2021 das Kapitol von Trump Anhänger*innen gestürmt wurde, ist eine logische Konsequenz dieser Entwicklung.

Jede*r, die/der wollte, konnte die Bilder der Inauguration von Donald Trump mit der von Barack Obama vergleichen. Jede*r konnte sehen, dass die Sonne nicht schien, dass bei Trump deutlich weniger Menschen auf dem Capitol Hill waren. Wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen waren Trump und Spicer im übertragenden Sinne nackt. Die Medien in der Rolle des Kindes, das den Satz: „Aber er hat ja nichts an!“ sagte, brachten die Fakten auf den Tisch. Und während im Märchen der Kaiser die Tatsachen am Ende anerkennt, trotzdem seinen Gang mit Haltung und Würde fortsetzt, rief man aus dem Weißen Haus denen, die die Fakten benannten, zu, dass sie Lügner*innen sind. Damit fand eine Umkehr statt, die bis heute wirkt: Normalerweise verliert der als Lügner enttarnte an Macht. Hier geschah das Gegenteil, die Medien gerieten in die Position der Rechtfertigung.

Gibt es Wahrheit?

Natürlich war der Wahrheitsbegriff erkenntnistheoretisch stets umstritten. Weit weniger umstritten aber ist, dass das Lügen seit jeher als anstößig gilt und aus der Perspektive von Ethik und Moral verwerflich ist, selbst wenn die Lüge unter gewissen Umständen (Nutz- oder soziale Lüge) gesellschaftlich toleriert wird. Wir Menschen brauchen die Gewissheit, dass Fakten Fakten sind, um uns in der Welt zurechtzufinden.

Die Legalisierung der alternativen Fakten durch das Weiße Haus, die Tatsache, dass sie eine Lüge auf die Stufe von „auch das kann wahr sein“ stellten, zerstörte diese Zugehörigkeit und Ordnung. Und damit geschah genau das, was der Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen als „Deregulierung des Wahrheitsmarktes“ bezeichnet hat. Oder noch radikaler ausgedrückt: die Auflösung des Wahrheitsbegriffs. Wenn Wahrheit und Fakten gleichzeitig Lüge sein können, dann gibt es keine Wahrheit mehr, um die gerungen werden kann. Damit gehen Halt und Orientierung verloren.

Was die Amtszeit Trumps, seine Lügen und Angriffe auf die Medien und Gegner*innen, was sie mit der Demokratie, der menschlichen, beziehungsweise psychologischen Ebene anrichteten, wurde am Ende seiner Amtszeit noch einmal sehr deutlich als der CNN Kommentator Van Jones vor laufender Kamera in Tränen ausbrach. „Ja, es ist am heutigen Morgen einfacher geworden Eltern zu sein, ein Vater zu sein. Es ist einfacher geworden, seinen Kindern zu sagen, dass Charakter wichtig ist, dass die Wahrheit wichtig ist. Dass es wichtig ist, ein guter Mensch zu sein.“ Der Moderator Jake Tapper fügte noch an: „Für Millionen Amerikaner geht ein langer Albtraum für unser Land vorbei“ (Reuter 2020).

Folgen für die Demokratie

Die Auswirkungen von Lügenkampagnen beschränkten sich nicht nur primär auf die politische Ebene und damit auf die Demokratie, indem das Vertrauen in Institutionen, in Politik, Medien und in einen gesellschaftlichen Konsens zerstört wird, sondern auch sekundär, in dem die Menschen das Vertrauen in sich und das, an was sie glauben, verlieren. Damit werden sie leicht manipulierbar.

In Deutschland haben AfD, Neue Rechte und andere Kräfte, die die demokratische Grundordnung anzweifeln oder zerstören wollen, die Entwicklungen in Amerika dankbar angenommen und für ihre Zwecke genutzt. Leider haben Politik und Medien bis heute keinen adäquaten Umgang mit dieser Entwicklung gefunden, während die Feinde der Demokratie die Möglichkeiten des Internets und Medien sehr geschult und gezielt einsetzen. Es gelingt ihnen zunehmend, die Grenze zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus aufzuweichen, was eine ernstzunehmende Bedrohung für die Demokratie darstellt.

Nachdem die Geflüchteten aus dem Fokus der Medienaufmerksamkeit gerückt sind, bot die Corona-Politik ein neues Feld, heute ist es der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine oder der Heizungsstreit. Es entstehen immer neue Allianzen, die es so vorher nicht gab – Linke demonstrieren gemeinsam mit Rechtsradikalen, Reichsbürgern; Politiker der Freien Wähler rufen öffentlich dazu auf, sich die Demokratie zurückzuholen. Indem am rechten Rand gefischt wird und man auch vor Fake News und Lügen nicht zurückschreckt, wird rechtsextremes Gedankengut bis in die Mitte der Gesellschaft getragen. „Der neue völkisch-autoritäre Populismus stellt daher ein gesamtgesellschaftlich demokratiebedrohendes Potential dar“, so der Wissenschaftler Häusler.

Die Medien als Verstärker

Eine besonders kritische Rolle kommt in diesem Zusammenhang den Medien zu. In Krisensituationen – und in einer solchen befinden wir uns – suchen Menschen fieberhaft nach Informationen, wollen das Unbekannte einordnen, ihre eigenen Ängste bewältigen und für sich selbst einen Standpunkt beziehen. Das wird allerdings bei der Flut an Informationen immer schwieriger, zumal diese sich teilweise widersprechen. Nun sind Medienhäuser wirtschaftlich denkende Unternehmen, die ihr Geld damit verdienen, Aufmerksamkeit für das zu bekommen, was sie publizieren. Das bedeutet, dass man schneller sein muss, als die Konkurrenz, die aktuellsten Informationen braucht und eben auch mal einen Skandal produziert, wo gar keiner ist. Da verlangt das kommerzielle Ziel nach dem Spektakulären, nach Dramatik und schon bewegt sich die Berichterstattung in Richtung Unterhaltung oder in Kampagnen, wie man es bei Springer in den letzten Wochen sehen konnte.

Beifall für die AfD

Die Antwort auf die Frage, wer schuld ist an den hohen Umfragewerten der AfD, ist natürlich komplex. Aber sie beginnt für mich dort, wo Desinformation anfängt. Wer Fake News verbreitet, trifft die Achillesferse der Demokratie. Die Gefahr ist meiner Ansicht nach sehr real. Viele haben gehofft, dass mit dem Ende der Amtszeit von Trump auch die Bedrohung der Demokratie durch Lügenkampagnen zu Ende ist, aber er und seine Vordenker, Menschen wie Nigel Farage, Steve Bannon oder hierzulande Götz Kubitschek, haben den Boden für etwas bereitet, das sich im Aufwind befindet.

Das Problem dabei ist: Die meisten, die gegen die Regierung hetzen oder im Netz Lügen oder Verschwörungstheorien verbreiten, sind mit Fakten nicht mehr zu erreichen. Sie haben sich aus dem demokratischen Diskurs verabschiedet, nutzen ihn aber für ihre Zwecke. „Es gibt eine Reihe von empirischen Studien, die zeigen, dass solche Menschen nur noch fester an ihre Theorien glauben, wenn man sie mit schlüssigen Gegenbeweisen konfrontiert. Die Theorien sind wichtig für Ihr Selbstbild“, schrieb Michael Butter 2020.

Das Kunstwort postfaktisch hätte uns 2016 eigentlich auf den richtigen Kurs bringen müssen. Wir hätten es ernster nehmen sollen. Bleibt die Hoffnung, dass uns das Wort des Jahres 2023 auf den richtigen Weg führt. Wahrscheinlich wird es Heizungshammer.

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