Ein Tag noch, dann verabschiedet sich 2023. Ich bin nicht traurig. Wenn ich zurückschaue, dann sehe ich mehr Tiefen als Höhen. Ich sehe Menschen, von denen ich mich verabschieden musste, Prüfungen, die ich bestanden habe, während ich andere vergeigt habe. Ich sehe tiefgreifende Erfahrungen – allen voran die von Erschöpfung, Müdigkeit und Ambivalenz dem Leben gegenüber. In diesem Jahr habe ich mich manchmal nicht wiedererkannt.
Mein größter Lehrmeister in 2023 war mein Hund Nicky. Seit 13 Jahren lebt er bei uns, ein spanischer Straßenhund, ein Podenco-Mischling, gerettet aus einem Tierheim in Felanitx, Mallorca.
Im Spätsommer dieses Jahres wurde er krank. So krank, dass wir schon dachten, wir müssen uns von ihm verabschieden. Für unsere Familie, aber vor allem für mich war das ein Schock, denn bis dahin war Nicky – sieht man von seiner Angst vor Silvesterraketen und vor dem Alleinsein mal ab – ein robustes Kerlchen. Kilometerweit ist er mit mir gelaufen und gewandert. Seine Begleitung auf meinen Runden war so selbstverständlich wie angenehm. Seit er nicht mehr so fit ist, laufe ich nicht mehr.
Ihn krank, verletzlich und gebrechlich zu erleben, hat mich tief berührt und mich auf eine nie dagewesene Art mit meiner eigenen Vergänglichkeit konfrontiert. Wir werden alle sterben. Der Hund, ich, mein Mann, meine Kinder, irgendwann. Rational ist das klar. Aber plötzlich war es nicht mehr nur rational, denn mit der Akzeptanz dieser Wahrheit öffnete sich bei mir das Buch der großen Lebensfragen mit all den darin verborgenen Gefühlen:
Bin ich am richtigen Platz?
Genieße ich jede Minute des Lebens?
Was will ich noch in die Welt bringen?
Was ist wirklich, wirklich wichtig?
Leider blieb es nicht bei den Fragen. Zeitgleich stand auch all das, was nicht läuft, mit auf der Matte, richtete sich der Lichtkegel auf meine Schwächen, auf die Miseren, mein Scheitern. Kein schöner Zustand, der in Kombination mit der Weltlage, die mich gern mal mehr ankriecht als andere, dafür sorgte, dass an manchen Tagen nicht viel von dem übrig blieb, was mich morgens normalerweise aufstehen lässt.
Nun bin ich mit einer großen inneren Kraft gesegnet, trotzdem war ich dankbar für Routinen. Und für meinen Hund, der mir mit seiner Unmittelbarkeit und seiner Bedingungslosigkeit aus so manchem Gedanken- und Gefühlstief herausgeholfen hat. Manchmal kehren sich im Leben die Rollen um: Da wird aus dem Geretteten der Retter. Vielleicht habe ich das intuitiv geahnt, als ich Nicky 2010 auf einem Bildchen im Internet entdeckt hatte und auf Anhieb wusste, dass das mein Hund ist.
Wenn in ein paar Stunden die Raketen in den Himmel steigen, werde ich Nicky im Arm halten und ihn an mich drücken. Und ich werde an das, was er mich in diesem Jahr gelehrt hat, denken:
Was zählt, ist das Jetzt. Nichts, was vergangen ist, lässt sich ändern. Nichts, was kommen wird, lässt sich vorhersehen. Nur im Moment liegt die Chance sich zu verbinden, zu vergeben, zu lieben.
In diesem Sinne.
Ich wünsche Dir von Herzen einen friedvollen Übergang in das neue Jahr und dass 2024 für Dich ein erfülltes Jahr wird. Und ich bedanke mich für Deine Lese-Treue. Wenn Du ein Abo abgeschlossen hast, danke ich Dir auf diesem Wege auch noch einmal für Deine Unterstützung.
In Verbundenheit
Jeannette