Porträt Frau, lange braune Haare, lächelt, Marina Weisband

Wie retten wir unsere Demokratie, Frau Weisband?

Marina Weisband, ist ein beliebter und gefragter Talkshow-Gast. Gern hört man zu, wenn die 1987 in der Ukraine geborene Diplompsychologin und Expertin für digitale Partizipation und Bildung ihre Haltung darlegt, Meinungen und Situationen analysiert und aktuell über die Situation in der Ukraine aufklärt. Was viele nicht wissen – Weisband gründete 2014 das Beteiligungsprojekt aula. Dahinter verbirgt sich ein Konzept zur politischen Bildung und liquid-demokratischen Beteiligung von Jugendlichen an den Regeln und Angelegenheiten ihrer Schulen.

Bis heute leitet Weisband dieses Projekt, und es könnte nicht besser in die Zeit passen. Unsere Demokratie ist fragil, nicht zuletzt auch dadurch, dass immer mehr Parteien antreten und eine klare Regierungsbildung und vor allem eine Konsensbildung erschweren. Aktuell ergeben zum Beispiel erste Umfragen, dass das neue „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) gut zehn Prozent der Wählerstimmen an sich binden und damit in den Bundestag einziehen könnte. Dann wäre es rein theoretisch möglich, dass nach der kommenden Bundestagswahl der Bundestag auf neun Parteien anwächst.

Nun sind Parteien für moderne Demokratien unabdingbar. Ihr Aufkommen war in der westlichen Welt historisch eng mit der Etablierung und Konsolidierung demokratischer Staatsformen verknüpft. An ihrer Existenz hängen zentrale Funktionen für das politische System – wie die Regierungsbildung und -stabilität. Allerdings sorgt eine Zersplitterung in derart viele Parteien durchaus auch für Instabilität. Denn dass es schwierig ist, mittels eines demokratischen Prozesses zu Mehrheiten zu kommen, demonstriert ja schon die Ampel-Regierung sehr eindrucksvoll.

Und damit zu aula, denn bei diesem Projekt geht es darum, dass sich Schulkinder über ein Beteiligungsverfahren demokratische Praktiken aneignen und sie auch gleich anwenden können. Und da das Ganze im digitalen Raum stattfindet, vereint dieses Konzept politische und digitale Bildung. Warum digital, warum es überhaupt ein derartiges Projekt braucht, was es mit unserer Demokratie zu tun hat und wie es überhaupt um unsere Demokratie steht, hat Maria Weisband in einem Interview beantwortet.

Frau Weisband, viele Schulen setzen derzeit digitale Beteiligungsprojekte um. Was ist die Motivation dahinter? Insbesondere auch, das digital zu veranstalten?

„Ich würde sagen, das Digitale ist ein Tool, also ein Mittel zum Zweck. Und der Zweck ist erstens, dass ich möglichst alle Schüler*innen in die Beteiligung kriege, also die Vollständigkeit. Da sind digitale Mittel auf mehreren Ebenen nützlich. Erstens kann ich mit der gesamten Schule Dialoge führen. Es ist ja sonst sehr schwer, alle Schüler*innen in der physischen Aula zu versammeln, damit sie sich unterhalten können. Mithilfe des digitalen Forums können sie online gemeinsam über die Ideen diskutieren. Darüber hinaus ist der inkludierende Aspekt wichtig.

Das heißt, ich gebe Schüler*innen die Möglichkeit, sich auch dann zu äußern, wenn sie sich zum Beispiel selbst als schüchtern beschreiben. Unsere Evaluation hat gezeigt, dass wir auf diese Weise auch solche Schüler*innen mit an Bord bekommen haben. Oder auch Schüler*innen, die Deutsch als Fremdsprache sprechen. Und das Digitale hat den Vorteil, dass es Prozesse transparenter macht.

Die Schüler*innen können klar sehen: In welcher Phase steckt die Idee gerade? Wie lange dauert diese Phase noch? Was kommt als nächstes? Es ist ganz einfach, Prozesse klar zu strukturieren, auch für Politik, Anfänger*innen und für Menschen, die nicht so eine lange Aufmerksamkeitsspanne haben, so wie Kinder oder ich.

Aula ist ein dauerhaftes Beteiligungssystem, das heißt, wenn wir es einführen, dann verändert das die Schule. Es ändert die Schulkultur. Entsprechend lang ist der Prozess. Normalerweise fangen wir mit einer Projektgruppe an, die besteht aus Lehrer*innen und Schüler*innen, oft auch aus der Schulleitung. Einer dieser Akteur*innen meldet sich meist initiativ bei uns und dann wird so eine Projektgruppe erstellt.

Im Grunde ist das ist ein politischer Prozess. Da wird ausgehandelt, was die Schüler*innen selbstständig dürfen, zum Beispiel die Hausordnung ändern oder das Essen in der Cafeteria. Da steht aber auch explizit drin, was die Schüler*innen nicht dürfen. Ich möchte, dass alle reingehen und wissen, worauf sie sich einlassen und einstellen müssen. Ich würde sagen, dieser vorbereitende Prozess dauert ein halbes Jahr etwa, manchmal auch ein Jahr.“

Es geht Ihnen mit diesem Projekt auch um so etwas wie die Rettung der Demokratie. Also zumindest soll es einen größeren Einfluss auf die Demokratie als Ganzes haben. Was muss denn passieren, damit der Einfluss noch größer wird?

„Ich glaube, das Projekt setzt an dem wirkungsvollsten Ort überhaupt an – Demokratie beginnt ja im Inneren. Demokratie beginnt in der Einstellung, dass ich erst mal nicht Opfer meiner Gesellschaft bin. Und ich bin auch nicht Konsument, sondern ich bin Gestalter. Demokratie beginnt in diesem Rollenbild. Denn wenn ich das Rollenbild Opfer oder Konsument habe, dann brauche ich ja immer einen starken Onkel da oben, der mir gute Bedingungen schafft.

Und das ist die Erzählung, die Populisten bedienen. In etwa so: »Die da oben, das sind alles Eliten, die sind alle böse. Aber hier, wir sind die guten Onkel, wir zeigen es denen da oben, für euch.« Das ist eine Art ausgelagerte Revolution. Und damit gehen autoritäre Regime gerade hausieren. Es ist eine verlockende Geschichte, und die Demokratie muss auch verlockende Geschichten erzählen. Und die verlockende Geschichte, die ich mit aula erzählen will, ist: »Du bist ein unersetzbar großes Mitglied deiner Gesellschaft und von dir hängt ab, wie gut es dir und deinen Mitmenschen geht. Und die Welt ist eine Bühne.

So, mach was draus, das sind die Ressourcen, die du hast. Und wenn du etwas siehst, du bist nie hilflos ausgeliefert. Du hast immer dich und du hast deine Verbündeten. Und wenn du lernst, dich mit Menschen zusammenzutun und Pläne zu machen und andere zu überzeugen und dich gegen Widerstände einzusetzen, dann kannst du im Prinzip dein Lebensumfeld zu deiner Utopie machen.«

Das sind Fähigkeiten, die sind nicht nur extrem wichtig für die psychische Gesundheit, gerade in multiplen Krisen, nicht nur für zwischenmenschliche Beziehungen, Ehen, Familienleben. Diese Fähigkeit, die wir Schülerinnen beibringen, miteinander zu kommunizieren, Bedürfnisse zu äußern, das sind ja ganz grundlegende Fähigkeiten.

Aber es ist vor allem das Mindset, das Demokrat*innen brauchen. Und ich war 2013 in der Ukraine und habe gesehen, wie dieses Mindset auf dem Maidan erwacht ist. Bei Menschen, die in einem autoritären System sozialisiert wurden. Und das hat mich sehr geprägt. Und unter diesem Eindruck ist aula entstanden. Ich glaube, wenn nicht ich dieses Projekt machen würde, sondern die Regierung, wenn es Standard wäre an Schulen, dass Schüler*innen diese Macht hätten, dann hätten wir viel weniger Probleme mit der Demokratie.“

Kann man so ein Projekt von Schulen auf die große Politik übertragen? Also an Orte, wo Menschen sind, die sich als Demokratiemüde bezeichnen?

„Es ist absolut denkbar, aula in anderen Organisationen anzuwenden, aber es müssen immer Organisationen sein, in denen Menschen sich kennen, wo sie physisch sind und wo sie sich gegenseitig sehen. Das heißt, es wäre nicht möglich, ein Bundes-aula zu machen. Es ist auch nicht wünschenswert, denn wie funktioniert aula? Aula soll die Rolle des Menschen ändern, die selbst wahrgenommene Rolle in der Gesellschaft und es soll die Selbstwirksamkeitserfahrung stärken Wie stärkt man Selbstwirksamkeits-erfahrungen?

Indem man Selbstwirksamkeitserfahrungen macht, immer und immer wieder. Denn wir Menschen lernen ja nur durch Wiederholung. Unsere Rolle festigt sich aus den Erfahrungen, die wir täglich machen. Ich muss also auf der Alltagsebene die Erfahrung machen, dass ich Dinge verändern kann. Das kann ich auf Bundesebene überhaupt nicht. Dafür dauern die Prozesse viel zu lange, sind viel zu komplex, viel zu indirekt.

Und es sind viel zu viele Menschen beteiligt. Selbstwirksamkeitserfahrungen mache ich in der Kita, in der Grundschule, in der Familie, in der Uni, am Arbeitsplatz, in meinem Viertel. Das sind die Orte, in denen Demokratie wirklich gestärkt werden kann. Wir können das dann fortsetzen auf Bundesebene mit etwas anderen Mitteln, wie zum Beispiel zufällig gelosten Bürger*innen-Räten, ergänzenden Online-Beteiligungen, direkten Abstimmungen und so weiter und so fort. Aber da arbeite ich dann schon mit dem Ergebnis der demokratischen Arbeit. Es ist nicht ihr Kern.

So etwas wie Bürgerhaushalt gibt es ja auch in China oder Russland, wo wir jetzt nicht davon reden können, dass da allgemein Demokratie herrscht. Ist das eine Chance oder eher eine Art democracy washing?

„Nein, es ist eine Art democracy washing. Erstens hängt es davon ab, wie verbindlich und einflussreich die Ergebnisse der Abstimmungen sind. Und das Zweite ist, wenn ich ein System habe, dass explizit Wert darauf legt, keine Demokratie werden zu wollen, und das auf gar keinen Fall zuzulassen, muss ich auch davon ausgehen, dass so ein Bürgerhaushalt nicht dieses Ziel hat.

Aber ich muss gar nicht erst nach China oder Russland gehen, um so etwas zu finden. Ich habe 2012 in Münster für einen Bürgerhaushalt Werbung gemacht und die Leute waren absolut desinteressiert. Das hat mich völlig verwirrt. Wie kann es denn sein, dass Leute desinteressiert daran sind, irgendwie zu bestimmen, was mit ihrem Geld passiert? Und dann bin ich auf den Trichter gekommen: Das war überhaupt nicht verbindlich. Das sind Ratschläge, die die Bürger*innen da geben können.

Und dann sagt die Verwaltung: Ja, sehr schön, danke für eure Ideen, aber nein, danke, die kommen jetzt in die runde Ablage. Und dann hat sich die Stadt gewundert, warum sich so wenige beteiligen und immer nur die gleichen. Dabei ist es ganz klar: Als Säugetiere sparen wir Ressourcen und Energie. Und warum soll ich mich informieren, recherchieren? Irgendwo meine Ideen aufschreiben, wenn ich am Ende dann nur frustriert bin?

Ich glaube, diese Art von unverbindlicher Beteiligung ist tatsächlich schlimmer als gar keine Beteiligung, weil sie erlernte Hilflosigkeit verstärkt, anstatt sie abzubauen. Anstatt Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen, mache ich Frusterfahrungen. Ich mache die Erfahrung, wenn ich etwas versuche, ändert sich nichts und das demotiviert mich und hält mich davon ab, überhaupt irgendwas zu versuchen.“

Wie können wir denn die Menschen, die frustriert sind und die Demokratie ja teilweise sogar ablehnen, wieder abholen?

Menschen sind grundsätzlich abzuholen auf zwischenmenschlicher Ebene. In erster Linie suchen Menschen immer Kontakt und das ist auch wie Faschisten rekrutieren. Man kommt für das Soziale und dann bleibt man für das Nationale. Aber wir müssen Räume schaffen. Wir müssen Räume schaffen, die Menschen hin zu demokratischen Räumen ziehen, zu Selbstwirksamkeitserfahrungen. Ein solcher Raum, den ich mal vorgeschlagen habe, war die Volkshochkneipe, also eine Art öffentlicher Ort.

Da, wo wir jetzt mal den Karstadt haben, mitten in der Stadt, mit einem Kaffee, das so offen ist, dass man eigentlich schon drin ist, wenn man dran vorbeigeht. Und man darf sein eigenes Essen mitbringen. Oder es gibt günstig Dinge dort zu kaufen und daran angeschlossen ist die Bibliothek und dran angeschlossen ist die Volkshochschule und Studios, um YouTube Filme zu drehen und um Podcasts zu machen.

Und ein Bürger*innen-Garten und Werkstätten. Und da sind Drucker und alles, was man so brauchen kann, sich aber vielleicht zu Hause nicht leisten kann. Man kann sich zusammentun für Projekte, man kann Kurse belegen, man kann seiner Neugier dort nachgehen. Und dieser Ort von Lernen und Miteinander ist dann auch demokratisch verwaltet. Und wir machen unsere gemeinsamen Regeln dort. Das wäre ein öffentlicher, demokratischer Raum.

Gesellschaftlich bauen wir solche Räume ab. Man sieht auch das Erste, was in der Energiekrise nicht mehr geheizt wird, sind öffentliche Einrichtungen, wo Menschen zusammenkommen. Da…