Buchcover Putin vs. the People

Putin vs. the People

The Perilous Politics of a Divided Russia von  Samuel A. Greene and Graeme B. Robertson 

Nicht erst seit Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 fragen sich viele, wie es möglich ist, dass das Volk so stabil hinter Wladimir Putin steht. Die Antworten sind vielfältig, beziehen sich jedoch meist auf die Wirkung von Propaganda, auf strukturelle oder historische Umstände. Oder man charakterisiert den „Homo sovjeticus“ als einen, der sich aufgrund der Gemengelage wahlweise nach einer „starken Hand“ sehnt oder eben die romantisierte „russische Seele“ in sich trägt, was auch immer das sein soll.

Gerade darum ist Putin vs. People ein sehr aufschlussreiches Buch, denn es betrachtet die Menschen in Russland aus einem soziologischen Blickwinkel und beleuchtet die Strategien, die Putin anwendet, um die breite Unterstützung in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Seine wechselnden Taktiken und der Aufwand, der seitens der Regierung betrieben wird, um die Popularität nicht abreißen zu lassen, gleichzeitig aber die Fragilität dieser Strategien zu erkennen, ergeben insgesamt eine sehr informative Lektüre.

„Big Five“ als Forschungsgrundlage

Die „Unterstützung von Putin hat mehr mit dem Sozialleben der Russ*innen zu tun als mit der Politik“, formulierte Greene 2020 in einem Interview mit zios. Darum sollten die Teilnehmer*innen ihrer Studien neben der Befragung zu ihrer wirtschaftlichen Situation, auch einen Persönlichkeitstest durchführen und auf den Ergebnissen dieser Befragung baut „Putin vs. People“ auf.

Der Persönlichkeitstest basierte auf dem „Big Five Modell“, das von den Psychologen Gordon Allport und Henry Odbert in den 1930-er Jahren entwickelt wurde. Sie wollten untersuchen, wie viele charakteristische Begriffe es braucht, um die Facetten einer Persönlichkeit zu beschreiben. Die Sprachforscher starteten mit 17.935 Begriffen und kamen durch Gruppenbildung und Verdichtung am Ende ihrer Untersuchungen auf fünf. Aus diesem, ursprünglich sprachwissenschaftlichen Ansatz, hat sich im Laufe der Jahre ein sehr verlässlicher psychologischer Persönlichkeitstest entwickelt, den auch Greene und Robertson eingesetzt haben. „For each of the „Big Five“ traits, we asked survey respondents to place themselves on a simple seven-point scale, according to how much they felt the descriptions we offered descriped them personally. Using a standard method from personality psychology, we asked two questions for each trait“, schreiben sie in ihrem Buch.

Ergebnis in Russland

Die Big Five in der Originalfassung sind: Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus – wobei sich die Ausführungen im Buch letztendlich auf die „Verträglichkeit“ konzentrieren, da in dieser Eigenschaft das überraschendste Ergebnis der Forschung lag. „Respondents who were high on the agreeableness scale – who think of themselves as sympathic and warm, rather than critical and quarrelsome (…) – were seven times more likely to vote for Putin than those who were low on agreeableness, and they were four times more likely to give Putin a high approval rating“. Außerdem stimmten die Befragten mit einer dreimal höheren Wahrscheinlichkeitsrate dem Gesetz gegen die Beleidigung orthodoxer Gläubiger, als auch dem Gesetz das sich gegen Homosexualität richtete, zu. „All told, agreeableness turns out tob e the personality factor that best predicts a person’s politics in Russia“. Ein Aspekt, der nach dem aktuellen LGBT-Verbot durch Putin noch einmal an Bedeutung gewinnt.

Nur Big-Five?

„Putin vs. the People“ macht auch das Paradoxe in diesem Ergebnis verständlich, zeigt auf, dass die Persönlichkeitsmerkmale, die in den Big-Five erfasst werden, ungefähr zur Hälfte genetisch bedingt, zur anderen Hälfte durch soziale Prägung entstehen. Das ist insofern von Bedeutung, als dass die sogenannte Kollektiv-Erfahrung, die von anderen Soziologen, aber auch Publizisten, Schriftstellern und Philosophen, wie zum Beispiel Klaus Mehnert in seinem Buch „Der Sowjetmensch“ beschrieben wurde, vermutlich doch einen großen Einfluss auf dieses Merkmal hat.

Neben diesem Fakt verstärken laut Greene und Robertson die Einseitigkeit der Medien, die drohenden Repressalien und das Fehlen echter ideologischer Gräben die Tendenz zur Verträglichkeit. Im Zuge ihrer Ausführungen verweisen die Autoren noch auf eine Studie von Ellen Mickiewicz von der Duke University, in der die Teilnehmer der Meinung waren, „that people who have an »opinion corresponding to the majority« were more trustworthy, and it was less risky to work with people with conformist views than with others.

Insgesamt also ein sehr lesenswertes Buch, wenn man verstehen will, warum die Menschen in Russland sich nicht gegen den Machtinhaber Putin wehren. Und auch ein Türöffner mit Blick auf die Romantisierung der DDR, in der vermutlich ein ähnlicher Big-Five-Mix existierte.

„Putin vs. the People“
Yale University Press (September 2022)
ISBN: 978-0300268362
Preis: 14,99 als Taschenbuch / oder direkt bei Yale University Press: Putin vs. the People