Eine Mutter geht mit ihren zwei Kindern am Straßenrand einer Straße auf Lesbos entlang. Sie sind Geflüchtete

Wie frei dürfen andere sein?

Kommt ein Kind zur Welt und ist ein Elternteil deutsche*r Staatsbürger*in, so erhält das Kind automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Kind in Deutschland, in einem Flugzeug über dem Hoheitsgebiet eines anderen Landes oder auf Hoher See geboren wurde. Das „Leben wird durch die Tatsachen der Geburt und der Abstammung auf einem Territorium zur Grundlage der Nation gemacht, und zugleich sind alle Menschen- und Bürgerrechte an jene Geburt und Abstammung gekoppelt“, sagte der italienische Philosoph Giorgio Agamben in einem seiner zahlreichen Essays.

Mit dem deutschen Pass ist es möglich, visafrei in 187 von 195 Ländern der Erde einzureisen. Umgekehrt ist für Menschen aus 91 Ländern die Einreise nach Deutschland ohne Visum nicht möglich. Staatsangehörige*r eines Landes zu sein, bedeutet also nicht nur, per Geburt in die Bürger- und Landesrechte des eigenen Landes eingebunden zu sein, sondern gleichzeitig auch, durch Regelungen anderer Länder in der freien Wahl des Aufenthaltsortes beschränkt zu sein. Das nackte Leben ist demnach hinsichtlich seiner Bewegungsfreiheit nicht frei, im Sinne der freien Wahl des Niederlassungsortes.

Gute Migration – böse (irreguläre) Migration – 1

Dieser Faktor verschärft sich in dem Moment, in dem jemand gezwungen ist, das Land seiner Geburt zu verlassen, weil Krieg herrscht, oder weil der- oder diejenige sonst schutzlos religiöser oder politischer Verfolgung ausgesetzt ist. Für diesen Fall wurden zwar Gesetze, wie die Genfer Flüchtlingskonvention oder das Asylpaket II, erlassen, die die Aufnahme von Menschen, die auf der Flucht sind, international oder national regeln, allerdings schließen diese Regelungen viele Menschen aus. So ist es für jene, die ihre Herkunftsländer verlassen wollen, weil es ihnen dort nicht möglich ist, zu überleben, oder einfach nur Wohlstand aufzubauen, nahezu unmöglich in westliche Staaten legal und dauerhaft einzureisen. Ihr Leidensdruck reicht offensichtlich nicht dafür, um ihr Leben aus Sicht anderer Länder als schützenswert zu erachten. Moralisch betrachtet, ja, rechtlich gesehen, nein. Im schlimmsten Fall wird auf sie geschossen, sie werden zu Staatenlosen, führen – falls ihnen die Flucht gelingt – oft ein Leben, das von ständiger Flucht, Ausbeutung oder von weiterer Unfreiheit gekennzeichnet ist.

Wer aber gibt Staaten das Recht über Leben und Tod jener zu entscheiden, die nicht den Pass der eigenen Nationalität besitzen? Natürlich geht es bei diesen Gesetzgebungen, die Asyl und Migration regeln, darum, mit dem Ausschluss Ordnung und Sicherheit des eigenen Staates zu bewahren und die Rechte (Eigentumsrechte) der Bürger*innen des eigenen Landes vor Fremden zu schützen. Das kann allerdings recht schnell fremdenfeindliche Züge annehmen, wie der AfD Landtagsabgeordnete Andreas Winhart mit seinem Satz: „„Wer in Zukunft nicht wolle, dass Albaner und Kosovaren als Pflegekräfte ins Haus kämen und dann die Bude ausräumen, müsse AfD wählen“, eindrücklich illustrierte.

Aber auch wenn Vertreter*innen anderer Parteien sich nicht in der Form äußern würden, so sind Parameter wie Sicherheit, Angst vor Überforderung, Angst vor sogenannter Überfremdung oder grundsätzlich die Sorge, zunehmenden Migrationsströmen nicht gewachsen zu sein, die Messlatte, an denen sich auch die Grenzpolitik in Deutschland aktuell ausrichtet. Diese Parameter wiegen offensichtlich schwerer als das Gefühl, dass man anderen mit der Ausgrenzung Unrecht tut und ihre Freiheit beschneidet.

Diskutiert wird also weniger über das Schicksal der Geflüchteten selbst, als vielmehr darüber, „welche Politik für diejenigen Menschen gut und nützlich ist, die bereits Angehörige des jeweiligen Staates sind“, so der Professor für Politische Philosophie Andreas Cassee. Oder, wie der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck es am 3. Oktober 2015 formulierte: „Das ist unser Dilemma: Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich“. Diese Endlichkeit schließt den Tod von Menschen ein. Bis zum 08.03.2022 ertranken seit 2014 im Mittelmeer 23.568 Menschen. Dazu kommen jene nicht erfassten, die vor der Überfahrt auf Landwegen ums Leben gekommen sind oder in Lagern in Libyen gefoltert oder umgebracht wurden. Die Gesellschaft bestimmt über das Individuum.

Recht auf freie Wahl

Dabei sind Flucht und Migration, wie wir es jetzt ganz aktuell wieder erleben, ein integraler Bestandteil gesellschaftlichen Lebens. Sie entspringen – auch wenn die auslösenden Momente sich unterscheiden – auf der tiefen Ebene dem Trieb zu überleben. In seinem Buch „Homo sacer“ kommt Giorgio Agamben zu dem Schluss, dass die Menschenrechte auf dem Papier zwar unantastbar sind, die Realität jedoch gerade für Geflüchtete eine andere ist. Bezugnehmend auf die freie Wahl des Aufenthaltsortes schreibt er: „Es gibt keinen autonomen Ort für so etwas wie den »Menschen an sich« in der politischen Ordnung des Nationalstaats. Das ist evident und wird nicht zuletzt durch den Fakt bestätigt, dass der Status des Flüchtlings selbst im günstigsten Fall als provisorisch angesehen wird, als ein Übergangsphänomen, dem die Naturalisierung oder die Repatriierung folgen muss. Der Status des Menschen an sich ist im Recht des Nationalstaats unvorstellbar“. Dieser Widerspruch hat sich, seit Russland die Ukraine überfallen hat, sehr deutlich gezeigt – besonders in Hinblick darauf, dass Geflüchtete plötzlich nicht gleich Geflüchtete waren.

Seit Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffs durch Russland auf die Ukraine haben circa 3,2 Millionen Menschen das Land verlassen, davon sind bis März 2022 rund 200.000 in Deutschland angekommen. Für sie wurde im Eilverfahren ein rechtlicher Rahmen geschaffen, der es ihnen erlaubte, bis zu drei Jahre in Deutschland einen Aufenthaltstitel zu erlangen, zu arbeiten und staatliche Unterstützung in Form von Sozialleistungen zu beanspruchen. Im Gegensatz dazu harren auf den Ägäischen Inseln trotz vieler Initiativen, wie zum Beispiel „Sicherer Hafen“ oder „Seebrücke“ nach wie vor rund 20.000 Geflüchteten, die überwiegend aus Syrien und Afghanistan kommen, ohne Perspektive aus. Die Politikerin Malu Dreyer sagte am 19.02.2022 befragt zu den Geflüchteten aus der Ukraine: „Wir müssen uns schon vergegenwärtigen, dass wir es nicht mit klassischen Flüchtlingen zu tun haben, sondern wirklich mit aus einem Kriegsgebiet vertriebenen Menschen, die durch ihr Visum tatsächlich die Freiheit haben, sich den Ort auszusuchen, wo sie gern hinmöchten.“

Gute Migration – böse (irreguläre) Migration – 2

Wie schon ab 2015 zu beobachten, werden Menschen, die flüchten, nicht nur unterschiedlich „geframed“ – also in legale, illegale Geflüchtete, Kriegs-, Armuts- oder Wirtschaftsflüchtlinge unterteilt, sondern in der Praxis – wie aktuell zu sehen, auch unterschiedlich behandelt. Syrer*innen, die vor Krieg und den Bomben in ihrer Heimat fliehen, sind offensichtlich andere Flüchtlinge, als jene aus der Ukraine. Und Menschen, die ihre Heimat verlassen, weil sie sich dort nicht mehr ernähren können oder weil der Klimawandel ein Leben unmöglich macht, haben nicht das Recht, an einen Ort ihrer Wahl zu gehen.

Dabei stellt sich die Frage, ob wir aufgrund unserer Wirtschaftspolitik, die in Schwellenländern oder in Staaten Afrikas nachweislich zu Ausbeutung oder zum Klimawandel beiträgt, nicht sogar eine moralische Verpflichtung hätten, diesen Menschen eine Zuflucht und Entwicklungschancen zu gewähren. „Es gibt zwar ein Menschenrecht auf Auswanderung und eines auf innerstaatliche Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit, nicht aber ein Menschenrecht auf Einwanderung bzw. zwischenstaatliche Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit“, so Cassee. John Stuart Mill schreibt in seinem Buch „Über die Freiheit“: „Dem Einzelnen gehört der Teil seines Lebens, der vor allem die Interessen des Individuums berührt, der Gesellschaft der, der sie im besonderen Maße interessiert.“

Flucht als Menschenrecht

Staaten, so auch Deutschland, sind aufgrund ihrer Gesetzgebung befugt, Geflüchteten die Einreise zu verweigern. Trotzdem wäre die Frage zu stellen, ob nicht einiges dafür spricht, diese Praxis zu überdenken und das in der Deutschen Verfassung, in der Verfassung der EU und in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen festgeschriebene Recht auf Freiheit so umzusetzen, so dass es das Recht auf die freie Wahl des Lebensortes einschließt – unabhängig vom Ort der Geburt, der sexuellen Orientierung, der Religion und der Hautfarbe.

Anders formuliert: Das nackte Leben an sich – die Griechen nannten es zoé – aus dem Klammergriff der politischen Regelungen wieder herauszunehmen, wo es seit der Moderne gefangen ist. Oder, wie Michael Foucault es formierte: „Mir scheint, daß eines der grundlegenden Phänomene des 19. Jahrhunderts in dem bestand und noch besteht, was man die Vereinnahmung des Lebens durch die Macht nennen könnte: wenn Sie so wollen, eine Machtergreifung über den Menschen als Lebewesen, eine Art der Verstaatlichung des Biologischen oder zumindest eine gewisse Tendenz hin zu dem, was man die Verstaatlichung des Biologischen nennen könnte“.

Die Debatte darüber wurde in den letzten Jahren zunehmend in beide Richtungen geführt – von jenen, denen die Regulierung nicht streng genug ist und denjenigen, die sie am liebsten ganz aufheben würden. Dazwischen es Vorschläge, wie die von dem Migrationsexperten Gerald Knaus, der einen Katalog an Maßnahmen vorschlägt, der speziell die deutsche Asylpolitik mit Einreisebeschränkungen aufrechterhalten würde, aber menschlicher machen soll. Ich möchte dem noch eine andere Perspektive hinzufügen, die an das eingangs beschriebene Recht der deutschen Staatsbürger*innen anknüpft.

Deutsche Ausreisende

Im Jahr 2020 haben 966.451 Deutsche ihrem Land den Rücken gekehrt, um an einem anderen Ort auf der Welt leben und arbeiten zu können. Einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland haben in 2020 nur 102.581 Menschen gestellt. Die große Differenz zeigt deutlich, dass auch hier mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen wird – die Freiheit, insbesondere die Bewegungsfreiheit, die deutsche Bürger*innen genießen, billigt der Staat jenen, die ins Land kommen wollen, nicht zu. Jedenfalls nicht im selben Umfang. Ich halte das für eine Doppelmoral und gehe mit Carens, wenn er davon schreibt, dass das feudalen Geburtsprivilegien gleichkommt.

Nun könnte man argumentieren, dass die Rechte der Gesellschaft – also damit auch jedes Einzelnen als Teil dieser Gesellschaft eingeschränkt werden, wenn der Zustrom an neuen Bürger*innen zu groß wird, der Kuchen also geteilt werden muss. Arbeitsplätze würden weniger, Wohnraum knapper, etc. Aber auch das halte ich für ein populistisches Argument, denn jene die kommen, tragen – wenn man sie dann arbeiten lässt – zum Wohlstand bei und zahlen in die Sozialkassen ein.

Darüber hinaus, ist die deutsche Bevölkerung, wie der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel in einem Vortrag in Frankfurt sagte, „eine fragile, ängstliche und weitgehend erstarrte Bevölkerung“. Damit unterstreicht er eine gewisse Angst vor der Veränderung, die mit dem Bau von Beschränkungen, die Festungen ähneln, abgefedert wird – ein Argument, das sich ebenso bei Carens findet. Mit dieser Haltung stellt man allerdings den eigenen Wert als Mensch über den anderer. Miegel geht davon aus, dass „die deutsche Bevölkerung zukünftig jährlich um die Einwohnerzahl Frankfurts schrumpft. Würde man, so Miegel, die negative Entwicklung durch den Zustrom von Geflüchteten ausgleichen wollen, müssten jährlich zwischen 500.000 und einer Million Menschen in unser Land kommen“.

Ausreise-Klassen

Die Klassifizierung, dass jemand, der aus wirtschaftlichen Gründen sein Land verlässt oder weil die Klimaveränderungen das Leben einschränken, weniger Recht auf Asyl hat, als jemand, der vor Bomben flieht, halte ich aus mehreren Gründen für nicht tragbar.  Sicher gibt es unter jenen, die ihre Länder verlassen, Menschen, die es wirklich darauf abgesehen haben, das Sozialsystem des Niederlassungslandes auszunutzen. Aber diese Menschen gibt es auch innerhalb der Landesbevölkerung. Das dient also nicht als Argument für generelle Einreisebeschränkungen. Ich gehe an dieser Stelle eher mit der Theorie von Iris Marion Young, die die Position vertrat, dass Benachteiligung und ökonomische Ungleichheit Oberflächenphänomene sind, „hinter denen Strukturen der Unterdrückung und Beherrschung als Hauptbestandteile der Ungerechtigkeit stehen“.

Die Leidtragenden sind die Geflüchteten, oder mit den Worten Piskorskis: “In einer schrumpfenden Welt mit immer dichteren Grenzen, in der die Bürger mit Microchip-Pässen ausgestattet werden, drohen Flüchtlinge in der Grauzone am Rand von Gesellschaft  und Gesetz gedrängt zu werden“. Was darum meines Erachtens nach wie vor auf politischer Ebene fehlt, ist die Einsicht, dass Migration kein Kurzzeitphänomen ist, sondern dass das eher auf Grenzen und Beschränkungen zutrifft. sofern sind die Überlegungen von Gerald Knaus durchaus berechtigt und und zielführend, wenn es darum geht, kurzfristig Lösungen zu generieren. Langfristig sollte es allerdings meiner Ansicht nach darum gehen, Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit als Menschenrecht in Gesetzgebungen aufzunehmen und Beschränkungen abzubauen.

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