Ute Wolfangel Flüchtlingshelferin in Griechenland

Geflüchteten helfen

Dieses Porträt ist ein Kapitel aus dem Buch „Held*innen des Alltags – 30 Menschen engagieren sich für Umwelt und Gesellschaft“. Geschrieben habe ich es gemeinsam mit dem Unternehmer Stefan Maier, der auch die Idee hatte, Menschen, die Gutes tun, in Buchform ein Podium zu geben. Der Oekom Verlag hat uns gestattet, zwei der Geschichten aus dem Buch online zu veröffentlichen. Der Titel dieser Geschichte lautet: „Eine Schwäbin auf Lesbos“.

Ute Wolfangel – Alle Menschen sind gleich

»Wir gucken uns an, was passiert. Und das Schlimmste ist, dass wir uns daran gewöhnen. ›Ah‹, wird gesagt, ›heute ist ein Boot gesunken, viele Vermisste.‹ Dieses Sich-daran-Gewöhnen ist eine schlimme Krankheit! Es ist eine sehr schlimme Krankheit!«, sagte Papst Franziskus im Dezember 2021 bei seinem Besuch in Nicosia auf Zypern, um fortzufahren: »Wirkliche Lager. Wo die Frauen verkauft werden. Die Männer werden gefoltert und versklavt. Wir beschweren uns, wenn wir die Geschichten der Lager des vergangenen Jahrhunderts lesen, die der Nazis und die von Stalin. Und wir beklagen, wie das passieren konnte. Brüder und Schwestern, das passiert heute an den nahe gelegenen Küsten.«

2015 war die Hilfsbereitschaft riesig. Jetzt, sieben Jahre später, ist sie abgeebbt und fast unsichtbar. Doch es gibt sie noch – Menschen, die das grausame Geschehen an den Außengrenzen des reichen, christlichen Europa nicht einfach hinnehmen. Die sich nicht daran gewöhnen, dass sich Zehntausende Menschen auf der Flucht befinden, um dem Hunger, der Versklavung und der Perspektivlosigkeit zu entkommen. Die sich nicht an die Bilder von sinkenden Booten im Mittelmehr oder von gestrandeten
Menschen an europäischen Stacheldrahtzäunen gewöhnen. Ute ist so ein Mensch. Ich, Jeannette, habe sie kennengelernt, als ich selbst mehrere Male auf Lesbos war und dort half. Und bis heute ist unsere Verbindung geblieben, aktivieren wir unsere Netzwerke, wenn es darum geht, Geflüchtete zu unterstützen.

Ute ist keine Christin, sie ist nicht religiös, und doch hilft sie, wo sie kann – sei es auf Lesbos, in Athen, sei es auf dem Amt in Weil der Stadt, in ihrer eigenen Küche oder als Vorsitzende des Arbeitskreises Asyl. Ute
ist stets »auf Posten«, wenn es darum geht, Menschen beim Überleben oder auf dem Weg durchs Leben zu helfen.

Lebenslinien

Geboren wurde sie 1964 in Stuttgart, aufgewachsen ist sie in Schöckingen in einer Unternehmerfamilie und bei lebensfrohen und weltoffenen Eltern. Ute lernte früh, was Gastfreundschaft bedeutet, dass sie im Grunde gelebte Nächstenliebe ist. »Zu Hause standen die Türen immer offen«, sagt sie. »Es waren immer Gäste bei uns.« Überhaupt war der Vater sehr prägend für Ute. Er gründete und führte ein kleines Maschinenbauunternehmen, war ein fairer und sozial eingestellter Arbeitgeber, dem das Ausbeuten von
Menschen fernlag.

Ute erinnert sich noch gut an eine Geschäftsreise mit ihrem Vater in den frühen 1990er-Jahren in die damals neuen Bundesländer zu einem kleinen, neu gegründeten Unternehmen. Dort sollte eine Maschine aufgebaut werden, die das besagte Unternehmen beim Vater bestellt hatte. »Mein Vater begutachtete den Betrieb und sagte zur Überraschung aller, dass sie die Maschine wieder einpacken und mitnehmen würden.« Er war davon überzeugt, dass diese für den Betrieb zu groß und somit unnötig teuer sei. Er sprach mit den beiden Unternehmensgründern und suchte mit ihnen die passende Maschine beim Mitbewerber aus und fuhr wieder nach Hause.

Das Rückgrat für das Unternehmen, vor allem aber für den Vater und heute noch für Ute ist Mutter Hedda. Sie ist die gute Seele im Haus, eine Frau, die voller Zuversicht und Optimismus hinter Ute steht und sie, wenn auch manchmal ein bisschen sorgenvoll, immer unterstützt, ihr gut zuredet und sich unglaublich freut, wenn Projekte erfolgreich verlaufen. Nach dem Abitur wollte Ute schnell unabhängig werden, begann daher eine Lehre in einem kaufmännischen Beruf. Nach der Lehre hatte sie das Gefühl, ihren Horizont erweitern zu müssen.

Also ging sie 1988 für ein Jahr nach New Jersey, arbeitete dort als Logistikerin in einer Spedition und freute sich, die nahe gelegene Weltmetropole New York kennenzulernen. Sie liebte die Stadt mit ihrem Kulturangebot und vor allem die vielen Clubs mit der Livemusik und genoss es, wenn sie Besucher aus Deutschland durch Big Apple führen durfte. Trotz aller Begeisterung stand für Ute fest,
dass sie nicht in den USA bleiben wollte. Als sie zurückkam, unterstützte sie ihren Vater im Betrieb, übernahm dort die schriftliche Korrespondenz und die Pressearbeit.

Dann kam die Liebe. Ute schenkte zwei Söhne das Leben, dann zog die Familie in die Nähe von Göppingen, und Ute arbeitete in der Schreinerei ihres Mannes mit. »Ich war eine richtige Handwerkerfrau.« Als die Liebe verging und eine Trennung folgte, kehrte Ute mit ihren Söhnen zurück in die Heimat. Dort arbeitete sie ab 2003 als Marketingleiterin in der Solarbranche, wechselte aber nach zehn Jahren zu einem Filmemacher, der hauptsächlich Filme über die Energiewende produzierte. Das war wieder eine andere,
schnelle und aufregende Welt für Ute.

Von der Energiewende zu den Geflüchteten

Als 2015 eine der größten menschlichen Tragödien jüngster Zeit ihren Lauf nahm und sich Tausende Menschen auf den Weg nach Europa machten, überzeugte Ute ihren damaligen Chef, dieses Thema mit aufzunehmen und über die Flucht zu berichten. Flucht hat schließlich auch viel mit den Klimaver-änderungen, also auch mit der Energiewende zu tun. Ihr Chef zog mit. Ute stieß auf Michael Räber, den Gründer des Hilfswerks Schwizerchrüz, und es wurden vier Sendungen mit Michael gedreht. Während der
Dreharbeiten wurde Ute klar, dass auch sie sich stärker einbringen musste. »Ich konnte diesem Elend nicht weiter tatenlos zusehen.«

Kurz entschlossen rief Ute den Schweizer an und fragte: »Kann ich helfen?« Michel fragte nur: »Kannst du Auto fahren und mit wenig Schlaf auskommen?« »Kann ich«, sagte Ute. Und so packte sie im Winter 2015/16 ihre Tasche mit dem Wichtigsten und startete zu ihrem ersten Hilfseinsatz nach Lesbos, dem noch viele weitere an verschiedenen Standorten folgen sollten.

Warum sollte sie gut Auto fahren und mit wenig Schlaf auskommen können? Weil das Überqueren der Insel nachts auf rutschigen, unbefestigten Straßen ein Albtraum ist. Lesbos ist in manchen Teilen sehr hügelig, es gibt teilweise richtige Serpentinen. »Wenn wir übermüdet nach 24 Stunden Einsatz zurück zu unserem Camp fuhren, und außer dem Fahrer alle schliefen, dann waren wir manches Mal in Lebensgefahr.«

Auch das ist Griechenland

Wenn Ute erzählt, lässt sich die Realität nicht mehr verdrängen. Und wenn ich, Jeannette, ihre Sätze hier lese, dann muss ich feststellen, dass ich dieselben Worte benutze, wenn ich über die Zeit in Griechenland spreche. Aber lassen wir Ute berichten: »Ich habe auf Lesbos Dinge gesehen, die ich mir zuvor nicht vorstellen konnte. Die im Fernsehen so ganz anders wirken. Verzweifelte Menschen, die um ihre Angehörigen trauern. Menschen, auch Kinder, die unvorstellbare Gewalt und Willkür erlebten und erleben.

Wenn wir an Griechenland denken, denken wir an Sonne, Sand und griechischen Wein. Wir denken nicht an einen Ort, an dem Menschen ohne Dach im Schlamm sitzen, erfrieren oder im Sommer wegen der Hitze austrocknen und sterben. Wir denken nicht an Regen und Sturm. Nicht an traumatisierte Kinder. Doch auch das ist Griechenland.«

Ute erinnert sich gut an den Morgen, an dem sie am Strand Treibholz und Reste eines Bootes wegräumten. Sie erinnert sich an die Kinderschuhe und an die Teddybären, die zwischen den
Trümmern lagen, und an die panische Angst, ein totes Kind zwischen den Überresten zu finden. »Das blieb mir zum Glück erspart«, sagt sie und geht gleich zur nächsten Paniksituation über. Erzählt, wie sie am späten Morgen aufwachte. Es war kalt im Schlafsack, die durchwachte Nacht hing ihr noch in den Knochen, und sie fühlte sich müde, wie gerädert. Dann die Nachricht: Während der Nacht war kurz vor Lesbos ein Boot gekentert, es gab 70 Tote. An Bord waren vier Kinder.

Ute hatte Nachtschicht gehabt und Ausschau nach Booten gehalten. »Ich habe sie übersehen, es ist meine Schuld, dass diese Menschen starben«, dachte sie. Dann kam die traurige Entwarnung, die trotz allen Elends Erleichterung verschaffte: Das Boot war auf der anderen Seite der Insel gesunken. Erleichterung, nicht selbst das Boot übersehen zu haben. Vielleicht sogar ein kleines Glücksgefühl, nicht versagt zu haben, doch im gleichen Moment sofort ein schlechtes Gewissen wegen der eigenen Erleichterung. »Das ist eines der großen Helferprobleme. Wir haben immer ein schlechtes Gewissen. Wir fragen uns immer und immer wieder, ob wir nicht mehr hätten tun können, denn es ist nie genug.«

Unerträgliche Privilegien

Ganz schwierig war es, nach dem ersten Einsatz wieder in der Normalität anzukommen. Das Leiden von Lesbos im Kopf und die Banalitäten des Alltags vor Augen. »Diese Einsätze machen was mit uns.« Ute hatte wochenlang keine Freude mehr an den Dingen, die sie vorher geliebt hatte: Konzerte besuchen, tanzen gehen, Freunde treffen. »Doch ich habe gelernt, mir meinen physischen und emotionalen Freiraum zu schaffen, und kann mittlerweile gut abschalten.« Das geht nicht allen so. Manch einer verliert
sich selbst und irgendwann den Boden unter den Füßen, daher sind Selbstrespekt und Achtsamkeit für das eigene Wohlempfinden unabdingbar, will man dauerhaft unterstützen.

Zwischen den Aufenthalten in Griechenland ist Ute vor Ort in Weil der Stadt aktiv. Um diese Aktivitäten umzusetzen und jederzeit zu einem Einsatz nach Griechenland aufbrechen zu können, hat sich Ute als Texterin und Autorin selbstständig gemacht. Sie verzichtet zwar monatlich auf einen nennenswerten Geldbetrag, doch nun hat sie Zeit für die Dinge, die sie für wertvoll hält, zum Beispiel für den 1. Vorsitz des Arbeitskreises Asyl in Weil der Stadt. Der Arbeitskreis kümmert sich um Menschen in Not, vor allem um
Geflüchtete, hilft den Menschen beim Erlernen der deutschen Sprache, vermittelt Wohnungen, leistet Fahrdienste, sorgt sich um berufliche Integration und um die Einhaltung der Menschenwürde und der Rechte für jeden Menschen.

Artikel 1

Ein Projekt, auf das Ute besonders stolz ist, ist die im Juni 2021 ins Leben gerufene Herzküche. Über geflüchtete Menschen, die unter anderem in Obdachlosenunterkünften untergebracht sind, kam Ute auch mit Obdachlosen in Kontakt. Ute fiel auf, wie einseitig sie sich ernährten. Manchmal kochten dann die Geflüchteten für die Obdachlosen. Das sprang Ute regelrecht an, und sie wollte dieses Füreinander und die gesunde, schmackhafte Ernährung der Menschen unterstützen.

Sie konnte ein Team Ehrenamtlicher gewinnen, die viermal in der Woche frische Lebensmittel in der Unterkunft anliefern. Diese werden großzügig von den Weil der Städter Tafel und weiteren Bürgern gespendet. Nun wird mehrmals wöchentlich von den Geflüchteten für die Obdachlosen gekocht. Das hat den wunderbaren Nebeneffekt, dass beide Seiten dichter zusammenrücken, und vor allem fühlen sich die Obdachlosen von der Gesellschaft wahrgenommen und unterstützt, was wiederum ihr Selbstwertgefühl stärkt. Was in der Herzküche geschieht, das wünscht sich Ute auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Sie wünscht sich so sehr, dass wir aufeinander zugehen, miteinander sprechen und die Vorurteile abbauen.

Sie erlebt es immer wieder, wenn die Menschen aufeinander zugehen, dann ändert sich
ganz schnell die Meinung über »den Flüchtling«, »den Obdachlosen«. Auf einmal entsteht Hilfe, wo vorher Missgunst war. Es entstehen Freundschaften, wo vorher Ablehnung war. Und Ute wünscht sich nichts mehr, als dass diese menschenverachtende, fürchterliche Politik ein Ende hat. Dass diese Politik der Abschreckung, die die Menschen in tiefes Leid stößt, endlich der Vergangenheit angehört. Dass Politikerinnen endlich Verantwortung für die Menschen übernehmen und sich ihres eigenen Menschseins bewusst werden, anstatt menschenverachtende Praktiken nicht nur zu tolerieren, sondern gar zu fördern.

Dass die Politikerinnen aufhören, fehlendes Handeln der EU als Entschuldigung für Nichtstun vorzuschieben. Wenn es zu unserem Vorteil ist, dann nehmen wir keine Rücksicht auf andere Menschen, egal wie sehr sie uns brauchen. Im Grunde wünscht sie sich das Selbstverständlichste: dass die Worte, die im Artikel 1 des deutschen Grundgesetztes oder im Artikel 1 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verankert sind – »Alle Menschen sind frei und gleich
an Würde und Rechten geboren« – umgesetzt werden. Nicht mehr, aber unter keinen Umständen weniger!

Foto: ©Sabine Schreiber
Textveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung vom Oekom Verlag.