Heute gibt es im Tagesspiegel einen Artikel, überschrieben mit: Rechtsruck in Europa: „Vier Länder, in die man sinnvoll auswandern kann“. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was sinnvoll in diesem Zusammenhang bedeuten soll. Und ich finde es zutiefst verstörend, dass sich offensichtlich zunehmend Menschen Gedanken darüber machen (müssen), wohin sie ausreisen, wenn die AfD noch mehr Macht bekommt. Der Artikel ist derzeit der beliebteste unter den + Artikeln, also für jene, die zahlen und sich vielleicht auch eine Ausreise leisten können.
Spätestens seit letztem Mittwoch ist das tatsächlich eine Option, denn mit dem Fall der Brandmauer rückt die Möglichkeit einer Regierungsbeteiligung der AfD in greifbare Nähe. Wenn nicht noch… und das ist die Frage: Was muss passieren, um das zu verhindern? Eine Antwort kam vor ein paar Tagen von Jagoda Marinić in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Sie hob hervor, dass – entgegen der Ansicht von Friedrich Merz, anderer Politiker*innen und einiger Medien – nichts an dem, was am Mittwoch und im Anschluss passiert ist, normal ist.
Was ist normal?
Damit trifft sie einen ganz wesentlichen Punkt, denn wir konnten in den letzten Jahren – eigentlich schon in den letzten Jahrzehnten – zuschauen, wie sich rechtes Gedankengut und damit verbundene Grenzüberschreitungen zunehmend „normalisiert“ haben. Aber sind sie deshalb die Norm? Ist es wieder die Norm, mit Rechtsradikalen gemeinsame Sache zu machen? Nein. Und es sollte auch nie wieder die Norm sein. In Deutschland nicht und auch nirgendwo sonst.
Neben Jagoda Marinić hat auch Marietta Slomka vom ZDF heute Journal Friedrich Merz mit der Tatsache konfrontiert, dass es doch alles andere als normal sei, dass Menschen in ganz Deutschland plötzlich zu Tausenden auf die Straße gehen, dass der Holocaust-Überlebende Albrecht Weinberg sein Verdienstkreuz zurückgeben will, dass es prominente Parteiaustritte gibt, dass sich Kulturschaffende in einem offenen Brief gegen diese Art der Politik stellen.
Und was macht Friedrich Merz? Er normalisiert es. Er tut, als wären das ganz normale demokratische Prozesse gewesen. Er spricht sogar von lebendiger Demokratie. In der Sache hat er recht – es gab eine Abstimmung, man war dafür oder dagegen, einige jubelten, einige nicht. Aber allein die Tatsache, dass er die Normalisierung einer teils von Hass und Ausgrenzung, von Sexismus und Populismus geprägten Debatte propagiert und zusätzlich den anderen – in diesem Fall den Grünen und der SPD – den Schwarzen Peter zuschiebt, macht ihn als Kanzlerkandidaten hoffentlich nicht nur in meinen Augen vollkommen ungeeignet.
Der ausgebliebene Weltuntergang
Es gibt in der Sozialpsychologie den Begriff der kognitiven Dissonanz. Damit ist ein Zustand gemeint, der sich mit einem Unwohlsein beschreiben lässt, das wir empfinden, wenn wir uns gegen etwas verhalten, was wir uns zurechtgelegt haben oder als Selbstkonzept in uns tragen. Dazu gibt es eine schöne Anekdote, die sich im Jahr 1954 bei den Anhängern einer Sekte in Wisconsin zugetragen hat.
Sie waren überzeugt davon, dass am 21. Dezember die Welt untergehen und die Erde vernichtet werden würde. Sie allein waren nach ihrer Vorstellung die Auserwählten, die all das Drama überleben würden. Als nichts, aber auch wirklich gar nichts geschah, war ihr Argument, dass Gott sie ausgewählt hätte, um ihren Glauben zu prüfen. Keine Spur von Selbsthinterfragung, keine Reflexion, kein Einsehen. Nein, stattdessen fühlten sie sich in ihrem Glauben bestätigt. Man muss schon eine Schere im Kopf haben, um so zu agieren.
Wer Donald Trump vor einigen Tagen zugehört hat, wird exakt dieses Verhalten wiedererkannt haben, als er davon sprach, dass er von Gott auserwählt wurde, den Anschlag zu überleben und nun das Land wieder great zu machen. Aber zurück zu Friedrich Merz, denn auch bei ihm lässt sich die Kluft zwischen Handeln und den eigenen Überzeugungen, die er mit den Worten „nie würde er der AfD die Hand reichen“ untermauert hat, aufzeigen. Denn was tut er? Er relativiert. Er normalisiert. Plötzlich ist das alles gar nicht so. Der Widerspruch wird kleingeredet und der Fokus auf andere gelenkt.
Das kann man machen. Das machen wir alle hin und wieder. Aber wenn es darum geht, ein Land zu führen, ein Land auch aus der Krise zu führen und Probleme ernsthaft anzugehen, dann ist dieses Verhalten fatal. Und es entlarvt Friedrich Merz und auch jene, die mit ihm zugestimmt haben, als komplett ungeeignet. Denn zu einer guten politischen Gepflogenheit gehören die Selbstkritik und die Selbstreflexion.
Angriff statt Reflexion
Friedrich Merz aber geht zum Angriff über. Auch gut zu sehen in dem Interview mit Marietta Slomka, in dem er fast gönnerhaft in einem herablassenden Ton davon spricht, dass Marietta Slomka etwas in das Abstimmungsergebnis hereininterpretieren würde und in dem er all das, was Slomka ihm als Wahrnehmung anbietet, abbügelt. Seien es die „bedröppelten Gesichter“ seiner Parteikolleg*innen oder die Tatsache, dass es wohl doch Abweichler*innen gab. Zusätzlich instrumentalisiert er – und das ist besonders perfide – die Opfer der Anschläge und Taten für seine politische Propaganda.
Das ist alles, aber nicht normal, und wir sollten aufhören, so etwas durchgehen zu lassen. Dass wir vor großen Problemen und Herausforderungen stehen, ist gar keine Frage. Aber die Lösung liegt nicht in populistischen Manövern, die unserer Demokratie schaden. Wer so agiert, ist als Kanzler ungeeignet. Wer so agiert, hat keine Selbstachtung und keine Achtung vor dem Leben.
Das hat unser Land nicht verdient. Ich will mir nicht Gedanken darüber machen müssen, wohin ich gehe. Ich will in einem Land leben, in dem Probleme angegangen werden, statt mit Populismus rechte Kräfte zu stärken. Deutschland ist ein wunderschönes Land, und wir alle tun gut daran, gemeinsam dafür zu sorgen, dass das auch so bleibt. Und der erste Schritt wäre, sich dagegen zu wehren, für etwas vereinnahmt zu werden, das alles, aber nicht normal ist.
Hier :
- der LInk zum Interview: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/merz-cdu-afd-abstimmung-bundestag-100.html
- der Link zum DLF-Beitrag: https://www.deutschlandfunk.de/nichts-daran-ist-normal-jagoda-marinic-zu-friedrich-merz-und-afd-100.html
- zum Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/internationales/immer-mehr-autoritare-regierungen-in-welche-staaten-kann-man-noch-auswandern-13114990.html