Gerade komme ich von einem Spaziergang am See. Das durch den Wind aufgewühlte Wasser erinnerte mich an meine Zeit auf Lesbos. Fast zehn Jahre ist es jetzt her und mit einem Blick auf die Situation in Deutschland und in anderen Ländern frage ich mich, was eigentlich noch passieren muss, damit der Kurs der Abschottung und Ausgrenzung, der damals eingeschlagen wurde, korrigiert wird.
Meine erste Zeit auf Lesbos war die Zeit der Willkommenskultur. Viele Menschen aus aller Welt hatten sich freiwillig auf den Weg gemacht, um zu helfen. NGOs die es vorher noch nicht gab, organisierten schnelle Hilfe für die Geflüchteten und auch wenn die Situation damals schon fürchterlich und teilweise unmenschlich war, so gab es doch so etwas wie Wärme und Hoffnung. Nie werde ich vergessen, wie ich in Idomeni von einer Familie eingeladen wurde, die gerade ein kleines Baby bekommen hatte. Sie luden mich zum Tee ein. Die, die nichts hatten, außer einem Zelt und ein paar Habseligkeiten, teilten mit mir. Sie waren glücklich, weil sie dem Krieg entkommen waren und sich sicher fühlten.
Auch damals gab es schon jene, die von Asyltourismus oder Flüchtlingswellen sprachen. Die das Boot voll gesehen haben. Die nach Abschottung riefen. Von Monat zu Monat verschlechterte sich die Situation der Geflüchteten. Die NGOs wurden vertrieben, irgendwann war es ihnen sogar verboten, sich zu kümmern. Wer beim Helfen erwischt wurde, musste mit hohen Strafen rechnen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. So stirbt Menschlichkeit. Und die Spirale dieses Sterbens drehte sich weiter.
Heute, nach der schrecklichen Tat in Aschaffenburg stellen sich Politiker*innen verschiedener Parteien hin und bekunden ihr Beileid, fordern aber gleichzeitig, Grenzen zu schließen – also noch mehr Abschottung. Ich würde sie gern auf eine Zeitreise zurück in die letzten zehn Jahre nehmen und ihnen zeigen, welche Chancen sie verpasst und wie sie selbst dafür gesorgt haben, dass wir heute da stehen, wo wir stehen. Merz, der die AfD halbieren wollte, bemüht sich nun wortgewaltig, Recht außer Kraft zu setzen. Aber nicht nur er. Das Parteiprogramm der CSU gleicht dem der AfD vor vier Jahren. Und Julia Klöckner nimmt gleich komplette Kulturen in Geiselhaft. Die Liste ließe sich fortsetzen.
In meinem Buch „Die leblose Gesellschaft – Warum wir nicht mehr fühlen können“ erzähle ich von einer Begegnung, die mir beim Blick auf das aufgewühlte Wasser wieder in den Sinn kam. Sie handelt von zwei Männern, die auf der Bootsfahrt nach Lesbos ums Leben gekommen waren und von ihren Familien. Ich war damals bei der Beerdigung auf dem kleinen Friedhof dabei, der angelegt worden war, weil der Friedhof von Lesbos all die Toten nicht mehr fassen konnte. Wir haben am Ende der kleinen Zeremonie alle zusammen um die Gräber gestanden, uns an den Händen gehalten, gemeinsam gesungen und geweint. Es hat keine Unterschiede zwischen uns gegeben. Wir waren nicht Menschen unterschiedlicher Herkunft oder Klassen, wir waren Trauernde.
Und das wäre der erste gemeinsame Nenner. Dabei darf es aber nicht bleiben. Und das, was danach kommt, dürfen nicht pauschale Abschiebeforderungen sein oder populistische Rufe nach Maßnahmenverschärfungen. Rückblickend hat nichts davon in den letzten Jahren funktioniert, sondern die Krisen noch verschärft. Zusätzlich hat es unmenschlich agierenden Parteien zum Aufstieg verholfen. Daran haben allerdings auch viele Medienschaffende einen großen Anteil, die als Echokammern dafür gesorgt haben, dass die populistische Sprache zur Alltagssprache wurde. Wie das funktioniert, hat Victor Klemperer für alle nachlesbar beschrieben. Wer Populisten eine Bühne für ihr Gift gibt, verstärkt den Populismus und vergiftet alle.
Als ich 2019 das letzte Mal auf Lesbos war, waren die Geflüchteten hinter Stacheldraht untergebracht. Das hat sich bis heute nicht geändert und auch in Deutschland sind viele Kommunen nach wie vor mit der Unterbringung und der Versorgung der Menschen überfordert. Aber statt das zu ändern, statt Begegnungsräume zu schaffen, Perspektiven aufzuzeigen, politische Bildung zu fördern, setzt man auf Abgrenzung und Ausgrenzung. Der Überbietungswettbewerb der letzten Jahre in Sachen „Wie macht es Geflüchteten besonders schwer“ spricht Bände.
Ob nun konkret die Tat von Aschaffenburg mit einer anderen Politik hätte verhindert werden können, weiß ich nicht. Trotzdem denke ich, dass solche Fälle nichts mit der Herkunft zu tun haben, sondern mit der Behandlung oder eben auch Nicht-Behandlung. Viele Geflüchtete fallen durchs gesellschaftliche Raster und das trifft ganz besonders auf psychisch auffällige Menschen zu. Es ist ja schon für deutsche Staatsbürger*innen schwierig bis unmöglich, einen Therapieplatz zu bekommen. Für Geflüchtete greift dieses Problem noch weitaus früher, denn sie werden häufig nicht als auffällig erkannt. Das ist ein Defizit, das dringend behoben werden muss.
Auf der anderen Seite sollte nun langsam auch dem letzten klar geworden sein, dass das Dublin Verfahren nicht funktioniert, weil viele Staaten einfach nicht bereit sind, Geflüchtete, die eigentlich bei ihnen das Asylverfahren durchlaufen müssten, zurückzunehmen. Den Fall von Aschaffenburg auch in dieser Hinsicht aufzuklären, ist oberstes Gebot. Er bringt die verlorenen Menschenleben nicht zurück, aber vielleicht lernen wir daraus. Also vor allem auch jene, die in Asyl-Prozesse involviert sind. Diese Hoffnung mag ich nicht aufgeben.