Frau steht am Ufer, hat einen Hund an der Leine – Leben halt

Leben halt

Heute wird es ein bisschen privat – wobei. Wenn du die Zeilen liest, entdeckst du vielleicht auch etwas Politisches darin. Privatleben ist nie wirklich privat, sondern immer auch politisch. Die Polis, die sich in „politisch“ versteckt, war ihrem Ursprung nach nichts weiter als eine antike Siedlung, die ein bisschen erhöht gebaut worden war, um den Feind rechtzeitig zu sehen. Halt ein Ort, an dem Menschen zusammenkamen, die eben das taten, was Menschen tun: leben.

Und schon sind wir mittendrin, denn für mich geht gerade ein prägender Lebensabschnitt zu Ende. Etwas, das im September 1999 begann und nur wenige Stunden vor diesem Text hier seinen Abschluss gefunden hat.

Die Rede ist von der Schulzeit meiner Kinder.

Zwischen dem ersten Schultag meines Sohnes und dem letzten meiner jüngsten Tochter liegen stolze 26 Jahre. 26 Jahre, in denen ich Schulbrote geschmiert, auf Elternabenden gesessen oder den großen und kleinen Kummer meiner Schulkinder miterlebt habe.

26 Jahre mit Zeugnissen, Weihnachtsfeiern, Spendenläufen, Musikabenden, Klassenreisen, aufgeregten Eltern vor Klassenreisen, müden Kindern nach Klassenreisen, Tränen über schlechte Noten, Englischvokabeln, Stolz auf gute Noten, Schulfrust, Mobbing-Erfahrungen und und und.

Und es gibt noch eine weitere Zahl: 33. Das ist die Anzahl der Jahre, gerechnet von der Geburt meines Sohnes bis zum 18. Geburtstag meiner Jüngsten. Auch dieser steht demnächst an und beides zusammen wird wohl die größte Veränderung in meinem Leben einläuten.

Nach 33 Jahren Muttersein und 26 Jahren Schulmuttisein bin ich wieder eine Frau, die zunächst nur Verantwortung für sich selbst trägt. Das hört sich jetzt egoistischer an, als es gemeint ist, denn natürlich bin ich weiterhin Mutter. Aber eben nicht mehr im rechtlichen Sinne verantwortlich für meine Kinder. Ich trete als Mutter sozusagen in den Ruhestand, werde vielleicht noch für Ratschläge gebraucht, irgendwann als Oma, vielleicht aber auch nicht. 

Ich könnte jetzt eine lange Abhandlung darüber schreiben, wie sich unsere Gesellschaft entwickelt hat. Weg von der Gemeinschaft, in der Kinder von allen aufgezogen und die Mütter entlastet wurden, hin zur Kleinfamilie. Oder über patriarchale Strukturen, die dafür Sorgen, dass Mütter nach wie vor nicht adäquat anerkannt werden. Dass sie neben ihren Berufen noch die Hauptlast der Care-Arbeit tragen. Aber mein Punkt ist heute ein anderer:

Ich kann das gar nicht fassen.

Niemand hat mich auf diesen Moment vorbereitet. Obwohl schon so viele Mütter vor mir an dieser Schwelle standen, fühlt es sich an, als wäre es eine einmalige Erfahrung. Eine mächtig emotionale Erfahrung, wohlgemerkt. 

Mein Mann sagte neulich, dass ich jetzt wieder an dem Punkt stehe, an dem ich mit 24, also vor der Geburt meines Sohnes stand. Nur eben mit Erfahrung. Aber ist es dadurch leichter? Auf dem schönen Blog Ohfamoos habe ich mal über mein ambivalentes Verhältnis zum Altern geschrieben. Das hat sich leider bis heute nicht wirklich verändert.

Ich wäre gern die, die von sich sagt: Ich bin mit dem Alter gelassener oder weiser geworden. Oder: Ich weiß genau, was ich will und kann klar benennen, womit ich die Jahre, die jetzt noch kommen (vielleicht ja 33), fülle.

Aber ich bin es nicht.

Vor mir liegt eine große Leere. Eine Leere, die gar nicht leer ist. Wenn man genau hinschaut, bietet sie wie damals diese fucking Tausend Optionen, aus denen ich auswählen soll. Und leider bin ich an diesem Punkt kein Stück erwachsener geworden. Stattdessen fühle ich mich ähnlich überfordert wie damals und habe ein bisschen Angst, falsch zu entscheiden oder etwas zu verpassen. 

Erst vor kurzem habe ich eine Sendung über drei Frauen Ü50 gesehen, die die Freude an ihrer sexuellen Seite wiederentdeckt haben, nachdem die Kinder aus dem Haus waren. Die für sich entschieden haben, nicht zu einem unsichtbaren, asexuellen Wesen zu werden, wie so viele andere Frauen, sondern ihre Sexualität frei und offen auszuleben. Zu daten, was Neues auszuprobieren und die alte Scham abzulegen. Das hat mich berührt. Nicht, weil das mein Weg wäre, aber ich bewundere Menschen, die sich etwas zutrauen. Die ihre Komfortzone verlassen.

Wo verläuft meine?

Ich glaube nicht da, wo ich sie vermute. Nicht im Unbekannten oder im Neuen. Auf unbekanntes Terrain habe ich mich oft genug in meinem Leben begeben. Es hört sich paradox an, aber ich glaube, dass meine Komfortzone das „Neue“ oder das „Fremde“ ist. Sie zu verlassen würde bedeuten, stehenzubleiben und das zu akzeptieren, was ist. 

Vielleicht bin ich jetzt wirklich an dem Punkt angekommen, an dem es darum geht, anzuerkennen, was ich in den vergangenen 33 Jahren geleistet habe. Mich also nicht sofort wieder in etwas Neues zu stürzen, sondern innezuhalten und durchzuatmen. Und dabei möglicherweise zu entdecken, dass das sehr erfüllend sein kann. Damit schließt sich übrigens auch wieder der Kreis zum Politischen, denn wir leben in einer Gesellschaft, in der sich Menschen schwer damit tun, das, was sie erreicht haben, wertzuschätzen. Stattdessen streben sie permanent nach Höherem oder Neuem. Wachstum um jeden Preis.

Es ist erstaunlich, wie viel Respekt und Bauchgrummeln mir die Vorstellung des Stillstehens bereitet. Und ich vermute, dass es vielen so geht. Aber: Der Schatz liegt ja bekanntlich immer hinter dem Drachen.