Der Zug scheint voll zu sein. Nein, der Zug ist voll. Und weil er voll ist, verrät der freundliche Zugbegleiter über den Lautsprecher jenen, die nicht reserviert haben, Wagons und Plätze, die noch nicht belegt sind. Soll noch jemand über die Deutsche Bahn meckern.
Um mich herum sitzen Büchermenschen. Ich weiß nicht warum, aber man erkennt sie. Besonders die Frauen. Bücherfrauen haben eine Aura, die verrät, dass sie sich mit etwas Schönem beschäftigen – egal, ob sie selbst schreiben oder im Verlag arbeiten.
Möglicherweise fällt nur mir das auf. Möglicherweise liegt es auch einfach daran, dass ich im Zug nach Leipzig sitze und Buchmesse ist und an so einem Tag morgens gegen sechs Uhr sowieso nur Bücherfrauen in Zügen unterwegs sind.
Wenn ich selbst lese oder wie heute zur Messe fahre, überfällt mich zuweilen hinterrücks die Frage, ob es irgendwann vorbei ist mit dieser Buch-Magie. Gerade hat in Estland eine KI einen hochdotierten Essay-Wettbewerb gewonnen. Niemand in der Jury hat bemerkt, dass sich Passagen wiederholten, so wie es fast immer passiert, wenn man die Künstliche Intelligenz für einen Text bemüht.
Abgesehen davon: Warum noch schreiben?
Als ich heute Morgen in aller Herrgottsfrühe aus der S-Bahn gestiegen bin, um auf Gleis 4 auf meinen Zug zu warten, war klar, dass ich noch Zeit für einen Kaffee hatte. Also bin ich Richtung Bahnhofsvorhalle geschlendert und mit jedem Schritt war es deutlicher zu hören: ein Klavier. Irgendwer spielte Klaviermusik. Ich ging die Treppen hinunter und nach ein paar Stufen konnte ich es sehen. Da stand tatsächlich ein Klavier. Wohl bemerkt ein gelbes.
Ich war immer noch nicht sicher, ob die Musik aus einem Lautsprecher kam oder ob es ein selbstspielendes Klavier war, denn ich konnte zunächst nur die Rückwand sehen. Es war aber auch egal, denn viel faszinierender war, wie sich die Töne durch die Halle bewegten, während Reisende Rollkoffer hinter sich herzogen, ein Obdachloser Flaschen über den Boden rollte und andere Menschen schnellen Schrittes zu den Gleisen oder zum Ausgang eilten.
Nachdem ich alle Stufen hinter mir gelassen hatte, konnte ich ihn sehen: einen jungen Mann mit Hut, der – als würde er nie etwas anderes machen – auf einem, mit einer schweren Kette am Klavier befestigten, Klavierschemel saß und spielte. Völlig unbeirrt von dem Treiben um sich herum, völlig losgelöst von allem.
Klaviermusik ist wunderschön. Sie hinterlässt Spuren. Es fühlt sich so an, als würden längst verklungene Töne noch im Raum stehen, um sich mit den neuen zu vermischen. Sie verschwinden auch nicht, wenn das Lied zu Ende ist. Eher nimmt man sie mit, egal wohin die Reise geht. Darum ist es gut, wenn Klaviere in Bahnhöfen stehen.
Das ist übrigens auch der Grund, warum es gut ist, dass es in jedem Bahnhof eine Buchhandlung gibt. Und im Grunde hat diese Klaviermelodie schon meine Eingangsfrage geklärt. Wir brauchen Kunst, um auf die Reise zu gehen. Wir brauchen Autor*innen, die schreiben, Maler*innen, die malen und Klavierspieler*innen, die spielen, um bewegt zu bleiben. Wer auf die Reise geht, bleibt nicht stehen.
Was wie eine Binse klingt, enthält eine tiefe Wahrheit. Wer sich berühren lässt, wer das, was er sieht, hört oder liest, aufnimmt, der ist währenddessen immer ein Reisender und danach ein Anderer, eine Andere.
Schau mich an. Ich sitze im Zug und bekomme das Lächeln aus meinem Gesicht nicht weg. Ich versuche es auch gar nicht. Stattdessen schenke ich es der Frau, die mir gegenübersitzt und ihr Ticket nicht findet. Ich schenke es dem Bauarbeiter auf dem Leipziger Hauptbahnhof, der Zugbegleiterin, die in der überfüllten S-Bahn dafür sorgt, dass nur noch so viele Menschen in den Zug einsteigen, wie vorher ausgestiegen sind. Ob der Mann am Klavier wusste, dass sein Spiel bis nach Leipzig fährt und sich wie die Energie zwischen Billard-Kugeln übertragen würde, obwohl er längst selbst in einem Zug saß?
Ob der Autor, die Autorin ahnt, dass das, was er oder sie geschrieben hat, Leben verändert? Ich schreibe bewusst nicht, Leben verändern kann, denn das es passiert, steht außer Frage.
Als ich in Leipzig angekommen bin, hat sich übrigens der Nebel, der Berlin am frühen Morgen noch eingehüllt hat, verzogen. Hier strahlt die Sonne. Vor dem Messegelände stehen unzählbar viele Menschen. Büchermenschen.
Und auf eine ganz direkte, unverstellte Art und Weise erfüllt mich dieser Anblick. Wenn so viele Menschen sich berühren und bewegen lassen, egal ob von Musik oder von Büchern, besteht Hoffnung. Vielleicht nur für heute, vielleicht nur in meinen Gedanken. Aber Du weißt ja, irgendwo fängt es immer an.