ADHS Diagnose bei Frauen
Würde man aus all meinen Hobbies, Interessen, begonnenen und nicht zu Ende gebrachten Projekten mit Streichhölzern eine Linie legen, sie würde von Berlin bis nach München reichen. Dass das übertrieben ist, ist Teil meiner persönlichen Herausforderung. Für mich fühlt sich vieles anders an, als es von außen sichtbar ist, denn ich habe ADHS.
Persönlich finde ich die Bezeichnung ADHS nicht so treffend, ich bevorzuge den Begriff neurodivergent. Mein Gehirn tickt einfach anders als ein Durchschnittsgehirn. Ich bin geräuschempfindlich, nehme deutlich mehr wahr als andere. Mich treibt eine innere Unruhe an, die dazu führt, dass ich mich leicht ablenken lasse. Ich bin begeisterungsfähig, prokrastiniere aber auch bis zum Abwinken. Es gibt Tage, da sprudle ich nur so vor Ideen. Und es gibt Tage, da habe ich eine halbe Stunde später keine Kraft oder Lust mehr, sie umzusetzen. Oder ich habe sie vergessen.
Unterhaltungen und Menschen strengen mich an, aber ich habe gelernt, damit umzugehen, mich zu „maskieren“. Wenn ich ein Projekt bearbeite, dann kostet mich das in der Regel deutlich mehr Kraft als andere. Und trotzdem fühle ich mich oft genug als Versagerin. Die Wohnung aufzuräumen, dauert manchmal Stunden, weil ich vom Hundertsten ins Tausendste komme. Wie schrieb neulich ein Autor bei Spiegel online, nachdem er mit 38 seine Diagnose bekommen hatte und nun Medikamente einnimmt:
„Mein Gehirn, so fühlte es sich an, macht sein eigenes Ding. Und wenn das Ding im Gehirn nicht mit dem Ding in meinen Plänen übereinstimmte, dann wurde daraus fast nie etwas. Menschen mit ADHS sind oft sehr impulsgetrieben. Und der Impuls, der gerade am lautesten ist, bestimmt das Geschehen.“
Haben wir nicht alle ein bisschen ADHS?
„Aber das kenne ich doch auch“, sagen viele, wenn ich von meinen Schwierigkeiten erzähle. Ja, ein bisschen davon haben wir alle, aber eben nicht permanent. Oder sie sagen: „Das kannst du doch nicht als Entschuldigung anbringen. Du bist erwachsen.“ Ja, bin ich. Und das macht es noch komplizierter, denn bis vor kurzem war man der Meinung, dass sich ADHS verwächst und dass Frauen eher nicht betroffen sind. Nun wird ADHS aber vererbt und es gab wohl kluge Ärzt*innen, die bei Diagnoseverfahren mit Kindern (wo die Eltern in der Regel dabei sind) festgestellt haben, dass die Eltern oder ein Elternteil auch betroffen sind. Oder die feststellen mussten, dass die, die als Kinder ADHS diagnostiziert waren, als Erwachsene weit weg von „geheilt“ sind.
ADHS ist nicht eingebildet, sondern eine diagnostizierte Störung. Es ist wie ein gebrochener Arm, der nicht verheilt. Und niemand würde auf die Idee kommen, zu jemandem mit einem gebrochenen Arm zu sagen: „Das kannst Du doch nicht als Entschuldigung anbringen.“ und ihn auf einen Baum klettern lassen. ADHS verwächst sich auch nicht. Im Gegenteil.
Wann zeigt sich ADHS?
Es gibt Lebensphasen, da kommt es wieder deutlicher zum Vorschein als in anderen Phasen. Bei mir waren es die Menopause und der Umstand, dass ich komplett auf Alkohol verzichtet habe, der den Stein ins Rollen brachte, beziehungsweise die Symptomatik, die ich vorher oft heruntergespielt, betäubt oder als eigenes Versagen interpretiert hatte, deutlich verstärkt haben, sodass ich nicht mehr wegschauen konnte.
Ich bin jetzt 57 und wer von außen auf mein Leben schaut, sieht auf den ersten Blick nicht, dass ich in vielen Punkten beeinträchtigt bin. Dass ich prokrastiniere, bis es weh tut oder teuer wird. Dass ich es über Wochen nicht schaffe, meine Tage zu strukturieren. Dass manchmal einfach nur verzweifelt bin, weil ich mein Potential nicht umsetzen kann. Ein Satz, der übrigens schon in meinen Zeugnissen steht. Nie hätte ich gedacht, dass eine angeborene Neurodivergenz mein Problem ist, bis ich das Buch „Kirmes im Kopf“ von Angelina Boerger in die Finger bekam und beim Lesen von einem Weinkrampf in den nächsten gefallen bin, weil ich mich plötzlich so gesehen und verstanden gefühlt habe. Ich bin nicht unfähig, nicht faul, nicht verantwortungslos, sondern ich habe ADHS.
Aber was ist ADHS eigentlich?
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, wie sie ausgesprochen heißt, ist eine neurologische Entwicklungsstörung. die sich durch anhaltende Probleme in den Bereichen Aufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität auszeichnet. Bisher gibt es zwei anerkannte Typen, wobei Typ I als vorwiegend unaufmerksam und Typ II als eher impulsiv und hyperaktiv beschrieben wird. Viele Betroffene haben allerdings Symptome beider Typen. Ich zum Beispiel bin in der Schule eher selten durch hyperaktives Verhalten aufgefallen. Ich war eher verträumt und unaufmerksam, handelte und handle aber trotzdem sehr impulsiv, entscheide überwiegend schnell und aus dem Bauch heraus und dementsprechend manchmal eben auch unüberlegt.
Besonderheiten von ADHS bei Frauen
ADHS bei Frauen wird oft später im Leben diagnostiziert, häufig erst im Erwachsenenalter. Das liegt daran, dass die Symptome bei Frauen subtiler und weniger auffällig sein können. Charakteristische Merkmale gibt es trotzdem: Zum Beispiel die innere Unruhe und permanente Gedankensprünge. Frauen mit ADHS leiden oft unter emotionaler Dysregulation, was sich in starker Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit und Sensibilität äußern kann. Sie neigen auch eher zu Angststörungen und Depressionen. Darüber hinaus versuchen viele Frauen, ihre Symptome durch übermäßigen Perfektionismus und Kontrolle zu kompensieren. Dies führt oft zu einem hohen Maß an Stress und Erschöpfung oder im schlimmsten Fall auch zu Suchterfahrungen.
Insgesamt machen die subtileren Symptome und die unterschiedliche Präsentation eine frühzeitige und genaue Diagnose bei Frauen schwieriger. Darum sind ein besseres Verständnis der geschlechtsspezifischen Unterschiede und eine Sensibilisierung für die besonderen Bedürfnisse von Frauen mit ADHS entscheidend, um eine angemessene Unterstützung und Behandlung zu gewährleisten. Ich zum Beispiel hätte mir gewünscht, es wäre früher jemand auf die Idee gekommen, dass eine Neurodivergenz hinter meinen Symptomen stecken könnte. Das hätte mir viel Leid und viele Schleifen, die ich im Leben gedreht habe, sicherlich erspart.
Ist das alles nur schlecht?
Boah, ist das anstrengend, könnte man nun sagen. Ja, ist es. Aber eben nicht nur. Denn diese kleine Abweichung von der Norm macht mein Leben extrem bunt. Ich liebe es, dass ich viel wahrnehme, denn das ist eben auch eine Stärke. Ich liebe meine Spontanität, meine Lebensfreude, die aus Spontanität und Begeisterungsfähigkeit erwächst. Und es gelingt mir immer wieder, verkrustete Strukturen zu erkennen und zu beseitigen, sprich, ich bin in der Lage, mich neu zu erfinden. Eine Eigenschaft, die übrigens auch anderen hilft, ihre Strukturen zu überdenken. Darum können Menschen mit ADHS gerade in Transformations- und Krisenphasen wichtige Berater sein.
Was es meiner Ansicht nach braucht, sind Forschung und Akzeptanz. In Deutschland wird bei der Diagnose mit völlig veralteten Fragebögen gearbeitet. Bei denen wird auch nicht zwischen Männern und Frauen unterschieden. Wir sind also noch sehr weit weg davon, ADHS wirklich zu verstehen oder es überhaupt rechtzeitig zu erkennen. So erhalten Frauen ihre Diagnose in der Regel erst als Erwachsene und nach einer schwedischen Studie rund vier Jahre später als Männer. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis wir ADHS nicht nur als Herausforderung und Schwäche, sondern auch als Ressource sehen.