01 WHITE ANGEL - DAS ENDE VON MARINKA (© 2023 GKD-Journalisten, ZDF)

White Angel – Das Ende von Marinka

Ein Dokumentarfilm unter der Regie von Arndt Ginzel

Arndt Ginzel ist den meisten Fernsehzuschauer*innen als Reporter bekannt, der unter anderem für die ZDF-Sendung Frontal mehrfach in der Ukraine war, Kriegsverbrechen dokumentiert, Menschen interviewt und uns damit den Schrecken des russischen Angriffskrieges in die Wohnzimmer gebracht hat. Schon seine Doku „Die Straße des Todes“ lieferte nicht nur erschütternde Bilder, sondern half zu verstehen, dass dieser Krieg mehr als ein brutaler Vernichtungskrieg ist. Dass in ihm Menschenleben nicht zählen, dass Zerstörung und unerträgliches Leid für die Bewohner*innen der umkämpften Gebiete zum Alltag gehören.

Arndt Ginzel @privat

Nicht nur für „Die Straße des Todes“, sondern für seine gesamte Berichterstattung aus der Ukraine wurde Ginzel im September dieses Jahres mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. In der Begründung hieß es: „Ginzels Reportagen zeigen, wie schwierig und gefährlich es ist, sich in Kriegsgebieten der Wahrheit zu nähern. Genau das gelingt ihm immer wieder.“

Nun hat Ginzel sein Portfolio erweitert, hat nicht nur dokumentiert, sondern auch Regie geführt. „White Angel – Das Ende von Marinka“ ist eine ungewöhnliche Reportage, weil sie zum einen das Geschehen überwiegend aus der Perspektive einer Helmkamera zeigt, zum anderen sich im Grunde eine Szene immer wiederholt: der Moment der Evakuierung von Lebenden, Verletzten oder die Bergung von Toten aus der Kleinstadt Marinka. Immer wieder erklingt das Geräusch der Schiebetür des weißen Transporters, steigen verstörte und verletzte Menschen aus Kellern, immer wieder hört man die Stimme von Vasyl Pipa, der die Menschen dazu auffordert, mitzukommen und alles zurückzulassen, um das eigene Leben zu retten.

04 WhiteAngel 2023 ©GKDJournalisten_ZDF

Als Zuschauer erlebt man hautnah, wie sich Marinka nach und nach leert, wie die Stadt vom Frühjahr bis zum Herbst 2022 von russischen Angreifern komplett zerstört wird. Man erlebt, wie manche der Bewohner*innen noch hoffen, während andere verzweifeln. „White Angel“ zeigt keine Kampfszenen, aber die Präsenz des „normalen“ Lebens – die Blüten der Bäume im Frühjahr, das Weinlaub im Herbst, Baumaterialien an Hauswände gelehnt und parallel dazu das Fortschreiten des Exodus‘ – das ist weitaus schmerzhafter als es jede direkte Kampfszene jemals sein könnte. Diese Bilder treffen mitten ins Herz.

Auf seinem Instagram-Account erzählt Ginzel über die Entstehung des Filmes: „Ende Februar fuhren wir zur Klinik der ostukrainischen Stadt Kurahowa; am Eingang lehnten graue, mit getrockneten Blutflecken überzogene Bahren. Zunächst schenkte ich ihnen keine Aufmerksamkeit. Unterschwellig fragte ich mich jedoch, was sich hier abgespielt hat. Eigentliches Ziel meiner Reise war ein anderes: Ich hatte von Marinka gehört, einer kleinen Stadt ganz in der Nähe, die im Krieg vollständig zerstört wurde und inzwischen an ein Schlachtfeld im Ersten Weltkrieg erinnert.“

Arndt stellt Fragen. Das merkt man dem Film an. Er geht tiefer, als nur zu beobachten, stellt mit den Bildern eine Verbindung zu den Menschen her. Dabei kommt er selbst gar nicht nach Marinka hinein. Aber er trifft Vasyl, einen Polizist und Mitglied der Evakuierungsgruppe „White Angel“, der bereit war, das Drehteam in einen Vorort mitzunehmen. Vasyl ist es auch, der Ginzel die Festplatte seiner Helmkamera überlässt. „Über vierzig Stunden Videomaterial, die vom Sterben einer Stadt handeln, die verletzte und tote Menschen zeigen, Retter, die oft an ihre Grenzen stoßen.“

Was Ginzel sofort auffiel: „Die Einwohner von Marinka sprachen bis auf wenige Ausnahmen Russisch. Es sind russischsprachige Ukrainer, die Opfer russischer Granaten und Raketenangriffe geworden sind. Dabei hatte Putin behauptet, dass der Schutz der russischsprachigen Ukrainer ein zentraler Kriegsgrund sei. Vasyls Helmkamera-Aufnahmen entlarven das als Kriegslüge.“

Neben dieser Entlarvung bewegt sich der Film noch auf einer zweiten, einer zärtlichen, fast poetischen Ebene. Zum Beispiel am Ende, wenn Vasyl über Marinka sagt:

„Wenn du diese Gegend betrachtest, fühlst du sprichwörtlich ihren Schmerz. Die Häuser weinen, vergießen Tränen, menschengleich.Was einst so lebendig war, verfällt vor deinen Augen zu leblosen Steinhaufen, stirbt langsam aus.“

Und er drückt in vielen Szenen eine berührende Heimatliebe und -verbundenheit aus, die manche Bewohner*innen sogar dazu bringt, das Evakuierungsteam fortzuschicken. Sie wollen lieber sterben, als wegzugehen und es sind eben jene Momenten, die das Tor zu den großen Fragen des Lebens immer wieder weit öffnen. Die Perspektive der Helmkamera schafft auf der einen Seite Distanz, weil man immer wieder das Gefühl hat, sich wie in einem Game durch eine surreale Welt zu bewegen, auf der anderen Seite bringt sie die Zuschauenden bis ans die Schmerzgrenze ins Geschehen hinein.

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Dass es solche Filme braucht und dass es trotzdem schwierig sein wird, damit ein sehr großes Publikum zu erreichen, sind zwei Seiten derselben Medaille. Wer sich dem Horror dieses Krieges 90 Minuten lang aussetzt, der will mehr, als nur zuschauen. Der will diese Tiefe und damit begreifen, was in seiner brutalen Sinnlosigkeit kaum zu begreifen ist. Die Bilder brennen sich ein und wenn die Leinwand schwarz wird und der Abspann läuft, bleiben Ohnmacht und Wut zurück. Nicht zuletzt auch angesichts der eigenen Hilflosigkeit demgegenüber, was in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 geschieht.

Aber Wegschauen ist keine Option.

Denn auch heute, am Tag, an dem ich diese Zeilen schreibe, hat Russland wieder Bomben über der Ukraine abgeworfen. Wieder starben Zivilisten. Wer trotz der aktuellen und der unzähligen vergangenen Angriffe immer noch glaubt, Putin gehe es um etwas anderes, als um die Auslöschung der Ukraine, dem wird der Film „White Angel – Das Ende von Marinka“ hoffentlich die Augen öffnen.

Und noch etwas: Es heißt oft, dass die Flut an Bildern aus dem Krieg, uns abhärten würde, dass wir uns an das Leid gewöhnen. Arndt Ginzel sagt dazu: „Ich habe meinen Film, ich weiß nicht, wie oft gesehen in den letzten Wochen und Monaten. Ich weiß nicht, wie oft ich die Bilder gesehen habe, die Vasyl mit seiner Helmkamera aufgenommen hat. Ich weiß nicht, wie oft ich die Interviews mit den Überlebenden gehört habe, wie oft ich in die Augen dieser Menschen gesehen habe. Und ich kann für mich sagen, dass ich mich nicht an diese Bilder gewöhne, sondern jedes Mal berührt bin und die Frage stelle: Warum tut Moskau das? Warum wird den Menschen in der Ukraine so ein Leid angetan?“

Auf die Frage, was Ginzel wichtig an seiner Arbeit ist, antwortet er: „Ich will zeigen, dass das alles eben nicht nur abstrakte Zahlen sind, sondern dass da Menschenleben und Existenzen zerstört werden und das geht nur, wenn man sich den Opfern widmet und ihnen einen Namen und eine Geschichte gibt.“ Warum er das macht? „Jede Woche ziehen Demonstrierende mit Russlandfahnen irgendwo durch Deutschland, die offensichtlich nicht verstanden haben, worum es in diesem Krieg geht. Und die auf die russische Kriegspropaganda hereinfallen. Und denen muss man erklären, was hier passiert.“

„White Angel – Das Ende von Marinka“ wird am 8. Oktober das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm eröffnen, das bis zum 15. Oktober läuft. Kinostart ist am 19. Oktober.

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