Dieses Porträt ist ein Kapitel aus dem Buch „Held*innen des Alltags – 30 Menschen engagieren sich für Umwelt und Gesellschaft“. Geschrieben habe ich es gemeinsam mit dem Unternehmer Stefan Maier, der auch die Idee hatte, Menschen, die Gutes tun, in Buchform ein Podium zu geben. Der Oekom Verlag hat uns gestattet, zwei der Geschichten aus dem Buch online zu veröffentlichen. Der Titel dieser Geschichte heißt: „Von PC und Steuergesetzbuch zur Mistgabel und in den Stall“
Birgit Schulze, die Frau vom Erdlingshof
»Wir sollten vom Lebenshof anstatt vom Gnadenhof sprechen«, sagt Birgit. »Denn Gnade hat etwas mit Begnadigen, sprich mit der Vergebung von Unrecht zu tun. Aber Tiere tun kein Unrecht.« Anders der Mensch. Wie bereits die Bibel Apostel Paulus sagen lässt: »Auf Gnade sei der Mensch angewiesen, weil niemand leben könne, ohne Schuld auf sich zu laden.« Einigen wir uns darauf, vom Lebenshof zu sprechen. Von einem Platz, an dem Tiere in Frieden und weitestgehend artgerecht bis zu ihrem natürlichen
Tod mit Menschen und anderen Tieren zusammenleben. Erdlingshof heißt der Lebenshof, auf dem Birgit in Kollnburg im Herzen des Bayerischen Waldes mit ca. 110 Tieren und einer Handvoll Helfer*innen zusammenlebt.
Der Erdlingshof wurde 2014 von Johannes Jung und seinem viel zu früh verstorbenen Partner Dennis als Zeichen gegen das massenhafte Töten von Tieren gegründet. Auf der hofeigenen Internetseite ist zu lesen: »Wir sind alle Erdlinge (Erdenbewohner) und haben das Streben, Freude zu erlangen und zu leben sowie Schmerzen, Ängste und Leiden zu vermeiden.« So ist es nicht das vorrangige Ziel, möglichst viele
Tiere durch Aufnahme auf dem Hof zu retten, sondern durch Aufklärung deutlich zu machen, dass Tiere keine Lebensmittel, sondern Lebewesen sind.
Birgits Geschichte
Was führte Birgits aus Westfalen und einem Bürojob an den Erdlingshof nach Bayern? Der Vater und ihre Großeltern waren vor dem Bau der Mauer aus der damaligen DDR geflohen und hatten sich nach einer kurzen Zeit im Auffanglager im Münsterland, genauer gesagt, in Velen niedergelassen. Die Familie lebte damals eine andere Beziehung zu Tieren, als Birgit sie später leben sollte: Die Großeltern hatten in der DDR einen eigenen landwirtschaftlichen Betrieb, Birgits Mutter war ausgebildete Fleischereifach-verkäuferin. Im Westen angekommen, verdiente der Vater den Familienunterhalt auf dem Bau und wurde später Gerätewart und Kraftfahrer beim THW. Tierfürsorge, wie Birgit sie heute lebt, gab es damals nicht. Dennoch unterstützte der Vater Birgit, wenn sie mal wieder hilfsbedürftige Tiere nach Hause brachte, baute auch mal einen Stall für die Kaninchen. Das änderte nichts daran, dass Tiere Nutztiere für ihn waren – so wie für die meisten Menschen noch heute.
Zurückblickend bezeichnet Birgit ihre Kindheit als eine schöne Zeit. Ab dem zehnten Lebensjahr verbrachte sie ihre Zeit hauptsächlich im nahe gelegenen Pferdestall. Die Pferde wurden mehr und mehr zu ihren besten Freunden und zum Mittelpunkt ihrer Jugend. Birgit übernahm immer mehr Aufgaben im Stall, versorgte die Pferde, gab Kindern Reitunterricht. Im Rückblick bezeichnet sich Birgit als sehr schüchterne Jugendliche. Ob das nun der Auslöser für die Zuneigung zu den Pferden oder ob die Zuneigung zu
Pferden ein Grund für die Schüchternheit war, lässt sich heute schwer sagen. »Das war auch egal, denn ich wollte dort sein«, sagt Birgit. »Vielleicht wäre ein bisschen mehr Party ganz nett gewesen, doch das Zusammensein mit den Pferden gab mir mehr.«
Es liegt auf der Hand, dass Birgit Tierpflegerin werden wollte. Leider riet ihr die Berufsberatung des Arbeitsamtes davon ab. Angeblich, weil das doch kein Beruf mit Perspektive sei. Stattdessen solle sie lieber Steuerfachangestellte werden. Birgit fügte sich der Empfehlung und blieb dem Beruf 24 Jahre lang treu. »Ich habe das gar nicht ungerne gemacht, doch mein Drang zum Veganismus und zum Schutz der Tiere hat mich später aus dem Beruf ausscheren lassen.«
Irgendwann spürte Birgit, dass es ihr immer schwerer fiel, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die eine andere Tierethik vertraten. Sie hatte nichts gegen die Mandanten, die Metzger waren, sie mochte sie, doch gleichzeitig konnte sie nicht mehr verstehen, wieso diese Menschen kein Mitgefühl mit den Tieren hatten. »Ich fragte mich immer und tue es heute noch, wieso sehen andere das Leiden der Tiere nicht, oder warum können sie so darüber hinweggehen? Macht das denn nichts mit ihnen?« Diese Frage stellt Birgit ganz ohne anklagenden Unterton. Eher mit Erstaunen vor der Ignoranz und manchmal auch Kaltherzigkeit gegenüber den Mitgeschöpfen.
Die ersten Schritte Richtung Wandel
Es ist heute wissenschaftlich bewiesen, und wir alle wissen es, dass Tiere ebenso Empfindungen haben wie wir Menschen. Sie haben Angst, sie lieben, sie spüren und zeigen Zu- oder Abneigung und wollen ihr Leben leben. Zudem wissen wir mittlerweile alle, dass der Konsum tierischer Produkte massiv die Umwelt belastet, die Erderhitzung beschleunigt und maßgebliche Mitschuld an den Zivilisationskrankheiten und vor allem am Hunger auf dieser Erde hat.
So ist unser Fleischkonsum mit dafür verantwortlich, dass an anderen Orten Menschen mangel- oder unterernährt sind, denn wir benötigen – je nach Tierart – vier bis 16 pflanzliche Kalorien zur Herstellung einer tierischen Kalorie. Dennoch ist uns unsere Geschmackspräferenz wichtiger als all diese Themen und ebenso das weltweite milliardenfache Tierleid. So war es nur konsequent, dass Birgit 1997 im Alter von 25 Jahren Vegetarierin und 2007 Veganerin wurde.
Sogar die Mutter und die Schwester essen heute vegetarisch, nur der Vater ist noch nicht ganz davon überzeugt, dass fleischlos zu leben eine gute Alternative ist.
2011 zog Birgit nach Münster. Sie hatte sich entschlossen, aktiv für ihre Überzeugungen einzutreten, und da bot sich eine quirlige Studentenstadt als Versuchsterrain wunderbar an.
Im Umwelthaus fand sie auch gleich eine Gesinnungsheimat, dort sind verschiedenste Umwelt- und Klimagruppen, Gruppen aus dem Tierschutz oder der Lebensmittelrettung unter einem Dach vereint. Birgit engagierte sich unter anderem in der Lebensmittelrettung, indem sie Lebensmittel vom Markt holte und diese zubereitete, kochte und verteilte. Denn was auch heute nur wenigen bewusst ist: Die Vermeidung von Lebensmittelabfällen ist einer der größten Hebel im Kampf gegen die Erderhitzung.
Vom Steuerbüro zur Mistgabel
2014 las sie einen Post auf Facebook, auf den sie unbewusst schon lange gewartet hatte und der ihr Leben veränderte. Ein Post von Johannes, der nach dem Verlust von Dennis dringend Unterstützung in der Verwaltung und bei den täglichen Verrichtungen auf dem Erdlingshof brauchte. Birgit bewarb sich sofort, bekam die Stelle, und seitdem wohnt sie im Bayerischen Wald auf dem Erdlingshof in Gemeinschaft mit Tier und Mensch.
Es mutet fast paradiesisch an, wenn man sieht, wie und in welcher Vielzahl die Tiere friedlich und in Koexistenz zusammenleben. Auf dem Erdlingshof leben Hunde, Katzen, Rinder, Hausschweine, Wildschweine, Hühner, Puten, Pferde, Gänse, Schafe und Esel nebeneinander ohne Aggressivität oder Boshaftigkeit. Warum? Weil sie einfach sein dürfen! So erzählt Johannes in einem Video auf der eigenen
Internetseite, wie sie eine Anfrage bekamen, einen ausgewachsenen Bullen mit einem Gewicht von ca. 500 kg zu übernehmen. Der Bulle, Ben, wurde in seinem kurzen Leben schlecht behandelt und sah Menschen als Feind. »Trauen wir uns zu, einen ausgewachsenen Bullen, der womöglich unberechenbar ist, zu uns zu nehmen und in die Herde zu integrieren?« Da sie es nicht über sich brachten, Ben seinem Schicksal, sprich dem Schlachthof, zu überlassen, holten sie ihn auf den Erdlingshof. Voller Anspannung ließen sie
Ben aus dem Tiertransporter auf die Weide zu den anderen Rindern und den Pferden. Nach zehn Minuten war Ben angekommen, war wie ausgewechselt, freundlich und gut im Umgang mit den anderen Tieren.
Mittlerweile ist Ben ein richtiger Schmusebulle und freut sich auf die ausgedehnten Spaziergänge mit Johannes und Birgit im Bayerischen Wald. Eine der schmerzhaften Aufgaben ist es, dass sie fast täglich
Anfragen zur Unterbringung von Tieren zurückweisen müssen. »Wir können nur den kleinsten Teil der Tiere annehmen, das heißt, viele Tiere müssen wir zurückweisen. Weder haben wir unbegrenzte Flächen noch unbegrenzte Arbeitszeit oder finanzielle Mittel zur Verfügung, und mehr Tiere bekommen wir auf unserem
Hof einfach nicht unter. Was ebenfalls schmerzt, ist, dass wir bei normaler Lebenserwartung alle Tiere sterben sehen.
Doch das Sterben gehört zum Leben und somit zum großen Kreislauf. Dann müssen wir uns immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass wir mehr Tiere durch Aufklärung als durch Aufnahme auf dem Erdlingshof retten. Wir müssen Aufklärung betreiben und deutlich machen, dass, zumindest in unserem Kulturkreis, heute kein Tier mehr leiden und getötet werden muss, damit wir satt werden. Alleine, wenn wir uns vor Augen führen, welches Leid das Verzehren der ungeheuren Mengen an Milch bedeutet, wird es einem
ganz anders.«
Ein Leben für den Erdlingshof
Wie finanziert sich der Erdlingshof? All das Futter, die Tierarztrechnungen, die Angestellten, den Hof? Durch Spenden und Tierpatenschaften. Viele, viele Spenderinnen und Pateninnen tragen das Konzept des Hofes. Ohne diese Menschen wäre all das nicht möglich.Was dabei hilft, den Erdlingshof bekannt zu machen, sind unter anderem die regelmäßig stattfindenden Besuchertage. An diesen Tagen werden die Tore geöffnet und so wunderbare TierMensch-Begegnungen ermöglicht. »Es ist großartig zu sehen, wie
unterschiedlich sich die Tiere präsentieren.
Es gibt die Poser, die auf und ab stolzieren und es genießen, von den Menschen bewundert zu werden. Und es gibt die Schüchternen, die sich lieber ein ruhiges Plätzchen suchen und warten, dass der Hof wieder allein den Tieren gehört.« Was Birgit immer wieder gleichzeitig erschreckt und überrascht, ist, wenn Menschen eine Pute auf dem Hof nicht als Pute erkennen, weil sie nur das Bild eines gebratenen Etwas, das aus dem Ofen kommt, im Kopf haben. »Haben wir uns so weit von den Mitgeschöpfen entfernt, dass wir sie nur noch auf dem Teller oder eingepackt im Regal erkennen?«, fragt sie dann erstaunt.
Birgit lebt nun seit ca. acht Jahren auf dem Hof, und sie sagt, die Zeit verrinne irrsinnig schnell. Die Tage sind voller geplanter und ungeplanter Ereignisse. Neben dem täglichen Rhythmus des Versorgens gibt es immer wieder Krankheitsfälle, Anfragen, die zu bearbeiten sind, oder der nächste Besuchertag, der zu planen ist. Zudem gibt es einiges an Bürokratie, und die Zusammenarbeit mit den Helferinnen und Mitarbeiterinnen ist zu organisieren.
Eigentlich ist ihr Job ein 24-Stunden-Tag, den sie allerdings nie satthat. Im Gegenteil – sie und Johannes haben keinerlei Sehnsucht nach Urlaub oder längerer Abwesenheit vom Hof. Höchstens fährt Birgit mal für ein paar Tage ins Münsterland zu ihrer Familie. Birgit hat es nie bereut, den gut bezahlten Job und ihre Heimat gegen ein wesentlich geringeres Einkommen und das Leben auf dem Erdlingshof eingetauscht zu haben. Sie vermisst nichts. »Unser Herz hängt an dem, was wir tun, und an den Tieren.«
Wer das von sich sagen kann, muss ein glücklicher, zumindest ein sehr zufriedener Mensch sein.
Foto ©Halina Berg
Textveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung vom Oekom Verlag.