Junge rennt lachend und mit offenen Armen auf der Straße

Das Erbe Freundlichkeit

Anfang der Woche stand die Welt für mich plötzlich still. Ich hatte durch die Nachrichtenseite auf meinem Handy gescrollt, als ich plötzlich ein Foto mit einem bekannten Gesicht sah und dazu das Wort „Trauer“ las. Mein Ressortleiter, Chefredakteur Sport des Tagesspiegels, Claus Vetter, ist am letzten Sonntag gestorben.

Mir schossen sofort die Tränen in die Augen, das Herz wurde schwer. Und obwohl wir uns nur zweimal persönlich getroffen und ansonsten nur Telefonate geführt oder E-Mails ausgetauscht haben, fühlte es sich an, als würde mein Herz zerbrechen. 

Ich hatte bisher das große Glück, dass ich – bis auf meine Großeltern und zwei Bekannte – noch niemanden aus meinem nahen Umfeld verabschieden musste. Das spielt vielleicht eine Rolle, aber es gibt noch einen anderen Grund, warum der Stich ins Herz so schmerzhaft war.

Übrigens nicht nur bei mir. Auf der Startseite von Tagesspiegel Online findet man bis heute, also fast eine Woche später, immer noch den herzergreifenden Nachruf, geschrieben von Lorenz Maroldt. Das ist ungewöhnlich, normalerweise verschwinden solche Beiträge nach zwei Tagen im Archiv.

„Der Tagesspiegel hat nicht nur den Leiter seiner Sportredaktion verloren, sondern einen Freund.“ steht in der Unterzeile, dann folgt, was jemand aus meinem Bekanntenkreis, der den Nachruf auch gelesen hatte, eine „Liebeserklärung“ nannte. 

Eine Liebeserklärung an einen Menschen, der eine Eigenschaft hatte, die wir alle besitzen, die aber leider viele viel zu selten wirklich leben: Freundlichkeit.

Claus war einfach ein unglaublich freundlicher Mensch.

Zur Freundlichkeit an sich gibt es jede Menge zu erzählen. Zunächst einmal ist sie eine Tugend. Ich würde sagen: eine Tugend mit unterschätztem Potential, die in unserer Gesellschaft gern als Schwäche, Nachgiebigkeit oder sogar als Naivität ausgelegt wird.

Was Freundlichkeit wirklich bedeutet, wie sie Brücken baut, Menschen verbindet, kooperiert statt spaltet, spüren oder erleben die meisten dann, wenn sie das Glück haben, im Umfeld eines freundlichen Menschen zu leben oder zu arbeiten.

Ich bin der Ansicht, dass wir Freundlichkeit wieder neu entdecken müssen. Mehr noch: Ich denke, dass wir sie dringend brauchen, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein. Es ist nämlich nicht nur so, dass freundliche Menschen für ein gutes Klima sorgen, sie sind auch die Gewinner der Evolution. Darin steckt übrigens das größte Missverständnis der Menschheit: Nicht der Stärkere, sondern der Freundliche überlebt.

Jedenfalls auf lange Sicht, denn die Wissenschaft sagt, dass wir nicht anderes sind als selbst-domestizierte Primaten. Und domestiziert wurden nur die Freundlichen. Oder um es ganz unwissenschaftlich auszudrücken: „Wer vögeln will, muss freundlich sein.“

Ok. das steht in keinem Lehrbuch. Aber, um es nochmal mit den Worten des Genetikers Dmitri Beljajew zu sagen: „Ruhigere, besonnenere Mitglieder einer Gemeinschaft wurden von der Selektion bevorzugt.“

Aber nicht nur in Hinblick auf das Fortbestehen der Menschheit brauchen wir Freundlichkeit. Sie bringt uns auch zu uns selbst und zu anderen. Sie ist eine radikale Methode, uns kennenzulernen. Freundlichkeit ist ein revolutionärer Akt. Geh mal in Berlin die Straße entlang und lächle die Menschen an. Mindestens einer wird dich fragen, was du von ihm willst. Oder dich grimmig anschauen. Oder dich fragen, ob du noch alle Tassen im Schrank hast. Was macht das mit dir? Probiere es aus.

Und noch eine Sache und mit der komme ich zurück zu Claus. Wer freundlich ist, traut anderen etwas zu. Freundlichkeit heißt, einen Vertrauensvorschuss zu geben, denn Freundlichkeit ist meist auch mit Wahrhaftigkeit und mit Offenheit verbunden.

Wer freundlich ist, zeigt sich verletzlich und gibt dem anderen die Chance, ebenso offen und verletzlich zu agieren. Und mit Freundlichkeit ermutigt man andere. Das konnte Claus besonders gut. 

„Er hat junge Talente nicht nur gefördert, sondern ermutigt und bestärkt, hat ihnen etwas zugetraut und auch zugemutet, war an ihrer Seite, hat für sie gekämpft und sich, wann immer nötig, auch vor sie gestellt. In der Redaktion, aber nicht nur dort, wurde er dafür geachtet und bewundert. So offen, so diskussionsfreudig, so stetig bereit, dazuzulernen und die Perspektive zu ändern, ist Claus tatsächlich so jung geblieben, wie er gerne gewesen wäre.“

Jetzt, nachdem der erste Schock verdaut ist, spüre ich, was Claus hinterlassen hat und dass wir es weitertragen können. Die Menschen in der Sportredaktion, die tagtäglich mit ihm zusammen waren, seine Familie, seine Freunde, ich und nun auch du. Denn obwohl du Claus Vetter vermutlich nicht kennengelernt hast, trägst auch du jetzt ein bisschen was von ihm im Herzen. Gib es weiter.