Ahorn im Frühling grün

Grün statt Braun

Der Baum vor meinem Fenster hat innerhalb weniger Tage sein komplettes Blätterkleid angelegt. Aus kleinen Blüten sind Ahornnasen gewachsen und wenn ich den Baum betrachte, fällt es mir schwer, mir vorzustellen, wie er vor einiger Zeit noch aussah – wie er sich mit seinen nackten Ästen präsentiert hat, kahl im Winterkleid.

Wir vergessen so schnell. Andere würden sagen: Wir gehen mit der Zeit. Oder: Wir passen uns an das an, was ist. Darin sind wir Meister und Meisterinnen. 

Warum das gut und gefährlich zugleich ist? Gut, weil wir wahnsinnig werden würden, wenn wir alle Zustände und das, was uns begegnet, präsent in unserer Erinnerung hätten. Wir brauchen einen inneren Papierkorb, der regelmäßig geleert wird. Das Bild des kahlen Baumes ist natürlich nicht komplett gelöscht, aber es hängt mir nicht vor der Nase. 

Um Bäume soll es heute aber nicht gehen. 

Sicher kennst Du die Geschichte mit den Fröschen, die im Topf mit kaltem Wasser sitzen, sich pudelwohl fühlen und gar nicht merken, dass das Wasser immer heißer wird. Sie gehen (im übertragenen Sinne) mit der Zeit mit und angeblich verpassen sie den Moment, in dem sie sich mit einem beherzten Sprung aus dem Topf vor der drohenden Gefahr hätten retten können.

Diese Geschichte ist ein Mythos, der gern erzählt wird (vor allem von Coaches). Echte Frösche versuchen sofort, wenn die Temperatur für sie unangenehm wird, aus dem Wasser zu kommen. Trotzdem müssen sie für etwas herhalten, was eigentlich uns betrifft:

Wir sind grottenschlecht darin, angemessen auf drohende Gefahren zu reagieren. Die Krone der Schöpfung sitzt dumpf im Topf und lacht jene, die darauf hinweisen, dass es mittlerweile ganz schön heiß, eventuell sogar zu heiß ist, aus.

Das ist beim Klimawandel so, beim Artensterben und beim Faschismus. Man hat den Eindruck, wir erkennen ihn erst, wenn es zu spät ist. Bis dahin laden die Öffentlich Rechtlichen noch fröhlich AfD-Funktionär*innen in die Talkshows ein, Zeitungen übernehmen rechte Narrative und Politiker*innen, die eigentlich zu Mitte-Parteien gehören, buckeln vor faschistischen oder rechtsextremen Gestalten. 

Und wenn Du jetzt denkst: „Ach komm. Jetzt übertreibe mal nicht.“ Oder: „Damit will ich mir jetzt nicht den Samstag verderben.“, ist das eine Möglichkeit. Die ist allerdings auch politisch. Nichts zu tun, ist eine Haltung.

Ich selbst will nicht schweigen. Und ich will auch nicht im heißen Wasser sitzen, bis es mich verbrennt. Etwas weniger körperlich ausgedrückt: Wenn es um die Aufweichung und Abschaffung rechtsstaatlicher Prinzipien durch Rechtsextreme und Faschisten geht, ist es mit meiner Anpassungsbereitschaft vorbei.

Und ganz ehrlich? Eigentlich erwarte ich, dass andere da mitziehen. Auch wenn das Wasser noch nicht kocht, die AfD noch nicht an der Macht ist: Es ist fatal zu glauben, dass man selbst nicht betroffen ist, dass das alles schon nicht so schlimm wird oder dass man rechtzeitig aus dem Topf kommt.

Bedingt durch eine Nebentätigkeit habe ich gerade einen tiefen Einblick in eine politische Entwicklung, die sich noch nicht für alle offen zeigt. In dieser Entwicklung gibt es wie beim Klima Kipppunkte. Werden die überschritten, kollabiert das System und die Entwicklung läuft unkontrollierbar weiter. Das Investigativ-Team von Correctiv weist im aktuellen Newsletter deutlich darauf hin:

„Rechtsextreme, Abtreibungsgegner und Klimaleugner vernetzen sich international, teilen Strategien und Geld. Ihre Ziele sind eindeutig: Einfluss in Europa und demokratischer Rückbau. Der Staat soll auf ein Minimum schrumpfen, der Markt unkontrolliert sein, Klimaschutz am besten wegfallen.“

Ein direkter Blick in die USA hilft, zu verstehen, was das für Auswirkungen hat. Innerhalb von drei Monaten sind wir jetzt an dem Punkt, wo Menschen willkürlich inhaftiert werden, wo Bücher auf roten Listen stehen und jede leise Kritik als Verrat betrachtet wird. 

Die Republikanerin Lisa Murkowski sagte gegenüber Spiegel Online: „Wir haben alle Angst.« Die Furcht habe ein Ausmaß erreicht, das sie noch nie zuvor gesehen habe. Die Furcht sei so groß, dass selbst sie »oft sehr ängstlich« ist, ihre Meinung zu äußern, aus Angst vor Repressalien“.

Ich möchte nicht warten, bis das auch bei uns so ist. Trump wurde mit 30 Prozent der Wählerstimmen ins Amt gewählt. Nun hat Amerika ein anderes Wahlsystem, aber hier bei uns sind die Rechtsextremen mittlerweile stärkste Kraft, und Teile der CDU wollen ihnen schon den roten Teppich ausrollen. 

Willst Du in einem Land leben, in dem die AfD regiert?

Ich nicht. Niemals. Ich verachte ihre Politik. Ich verachte ihre Menschenfeindlichkeit, ihren Rassismus, ihren Populismus, ihre rückwärtsgewandte Politik, ihre Frau-muss-an-den-Herd-Haltung, ihre verächtliche Haltung allem Fremden gegenüber, ihre Angst vor Fortschritt und Veränderung, ihre Weigerung, den Klimawandel als solchen anzuerkennen. Faschisten haben diese Welt schon mehrfach in Schutt und Asche gelegt, und sie werden es immer wieder tun. Das ist ihre DNA.

Es tut mir leid, dass ich Dir das dieses Thema heute zumute. Aber es ist Ostern, also lass uns dieses Fest mal nicht religiös betrachten, sondern lass uns nur eine einzige Frage stellen:

Was ist Dir so heilig, dass Du Dich dafür ans Kreuz nageln lassen würdest? Meine Antwort darauf lautet: Freiheit und Gerechtigkeit. Das mag pathetisch klingen, aber ich meine es ernst. Darauf kannst Du Dich verlassen.

Ich weiß, dass nicht jede*r auf die Barrikaden gehen würde oder kann. Ich weiß, dass viele Menschen den Kopf in den Sand stecken, weil sie Angst haben oder weil sie eben auch wirklich glauben, dass das alles schon nicht so schlimm wird.

Wir sind eben auch Herdentiere und Mitläufer*innen. Das meine ich nicht wertend, das ist ein Fakt. So lange alle oder die Masse ruhig bleibt, werden wir einen Teufel tun, uns anders zu verhalten, selbst, wenn es uns an den Kragen geht.

Dazu gibt es einige aufschlussreiche Experimente. Zum Beispiel das, bei dem Menschen mittels einer Glocke und ein paar Schauspielern dazu bewegt werden, völlig sinnbefreit aufzustehen und sich wieder hinzusetzen. Konformitätswunsch und Gehorsam sind die Bausteine, auf die der Faschismus setzt. Es lohnt sich, sich damit zu beschäftigen und die Manipulationen zu erkennen.

Ich will den Baum grün sehen und nicht braun. Und vielleicht kann ich dich ja mitziehen und du schaust für dich, an welcher Stelle du nicht mehr leise sein willst und dich gegen Ungerechtigkeiten und rechte Auswüchse auflehnst.

Vielleicht ja beim Osterbrunch, wenn Onkel Gustav auf die „faulen Ausländer“ schimpft und du diesmal nicht leise wirst, sondern ihm antwortest, dass er seinen rassistischen Müll bitte woanders abladen soll. Vielleicht ja als Kommentar unter einem rechten Post. Es gibt viele Möglichkeiten, Widerstand zu leisten.