Heute geht es um die Wahl. Nicht unbedingt nur um die, die am Sonntag ansteht, sondern allgemein um die Frage, ob wir überhaupt eine Wahl haben oder ob es nicht längst festgelegt ist, wohin unsere Reise geht.
Damit knüpfe ich an meinen letzten Newsletter an, in dem von Schicksal die Rede war und davon, wie Entscheidungen, die wir treffen oder nicht treffen, unsere Lebenswege prägen. Es scheint so, als hätten wir die Wahl, dies oder jenes zu tun, aber so deprimierend das ist: Es ist eine schöne Illusion.
Der von mir sehr geschätzte langjährige Wissenschaftsredakteur des Tagesspiegel, Hartmut Wewetzer schrieb 2016 dazu:
„Natürlich stimmt es, dass der Mensch freier in seinen Entscheidungen als andere Lebewesen ist, als ein Einzeller, eine Petunie oder eine Spitzmaus. Aber diese Freiheit ist relativ, nicht absolut. Der Wille bleibt an Hirnprozesse, an die Aktivität von Nervenzellen gebunden.“
Obwohl das so ist, glauben – abhängig vom Kulturkreis – zwischen 65 und 85 Prozent daran, dass sie ihre Entscheidungen aus sich heraus, mit einem freien Willen treffen. Und das ist gut so, denn der Glaube an den freien Willen bewahrt die Menschheit davor, moralisch komplett zu verfallen. Denn wenn unsere Wahl belanglos ist, weil sie nicht frei ist, dann steht der Sinnlosigkeitsverdacht im Raum, was dem Fatalismus Tür und Tore öffnet. Auch das ist wissenschaftlich belegt.
Aber ehe wir uns in der Finsternis des menschlichen Seins und in seinen Abgründen verlieren, kehren wir doch mal zurück auf den Weg der Mitte. Denn ganz so unfrei, wie neurowissenschaftliche Studien es suggerieren, sind wir vielleicht doch nicht. Oder wie Wewetzer es formuliert: „Es gibt auf der Ebene menschlichen Handelns kein unabänderliches Schicksal. Der Theorie nach sind wir unfrei, der Praxis nach aber nicht.“
Um es noch ein bisschen komplizierter zu machen: Auch diese Aussage ließe sich zerlegen. Wewetzer nimmt mit seiner Aussagen, dass wir in der Theorie keinen freien Willen hätten, den Determinismus als gegeben hin. In diese Annahme grätscht allerdings die Quantenphysik hinein, denn sie entzieht sich diesen Gesetzen und sorgt für Chaos und Unberechenbarkeit.
Wer ihr auf einer pseudowissenschaftlichen Ebene folgt, läuft Gefahr, sich im Esoterik-Labyrinth zu verlaufen, wo man Wünsche ans Universum stellt und dabei schnell den Blick für die eigene Handlungsmacht verlieren kann. In diesem Zusammenhang sehr empfehlenswert ist das Buch „Quantenphysik für Hippies“ von Lukas Neumeier und Dr. James Douglas, das mit einigen Mythen der Szene aufräumt.
Aber zurück zur Wahl, die durch die Einblicke in die Quantenphysik zwar nicht weniger kompliziert wird, sich aber am Ende doch ganz simpel auf den Punkt bringen lässt. Obwohl der freie Wille eine durchaus attraktive Illusion ist, sind unsere Entscheidungen die Summe gut orchestrierter Gehirnprozesse, die dann doch deterministischen Naturgesetzen unterworfen sind.
Anders, als es Decartes dachte, steht vor dem Denken das Fühlen, was meist, ohne dass wir es wahrnehmen, unsere Impulse steuert. Der Hirnforscher und Philosoph Gerhard Roth beschrieb die Kette so: Fühlen – Denken – Fühlen – Handeln. Und da das erste Fühlen auf der untersten Ebene, unserem sogenannten Reptiliengehirn angesiedelt ist, ist es wohl nicht beherrschbar. Das ist übrigens auch der Grund, warum Roth Zeit seines Lebens dafür plädiert hat, das Strafrecht zu überarbeiten. Denn wie kann jemanden schuldig gesprochen werden, der keinen freien Willen besitzt?
Mein langjähriger Therapeut Kurt Gemsemer hat in einer Sitzung mal sinngemäß gesagt, dass es zwischen Reiz und Reaktion einen Raum gibt, in dem die Freiheit des Handelns liegt. Diese Vorstellung gefällt mir und nähert sich wieder dem an, was Wewetzer als die Praxis des freien Willens bezeichnete. Wir benötigen Achtsamkeit, um in diesem Raum zu agieren. Etwas, das trotz Achtsamkeitsseminaren, Achtsamkeits-Apps und Influencer*innen, die uns Achtsamkeit lehren wollen, scheinbar mehr und mehr verloren geht.
Dabei liegt in diesem kleinen Raum das Geschenk der Freiheit. Die Möglichkeit, nach rechts oder nach links abzubiegen, Ja oder Nein zu etwas zu sagen. Und auch wenn es paradoxerweise nur eine schöne Illusion bleibt: Dieser Raum macht den Unterschied.