Irgendwann, irgendwo

Lächelnd sitzt er vor mir. Eine dicke Perlenkette schmückt seinen gewaltigen Bauch. Die Füße sind verschränkt und die Augen zu kleinen, listigen Schlitzen zusammengekniffen. Ich sehe ihn an. Eine Minute vergeht. Er lächelt. Nichts an ihm verändert sich. Er ist die Ruhe selbst.

Ich nicht. Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her, schaue ihn an, schaue weg, lasse meinen Blick und meine Gedanken abschweifen. Irgendwie macht mich seine Ruhe nervös.

Um mich zu beschäftigen, fixiere ich die Uhr, die neben mir auf dem Regal steht. Der Sekundenzeiger rückt unermüdlich von einem Strich zum nächsten. Tack, tack, tack… Metronom meiner Sekunden, Stunden, Lebensjahre.

Und der er?

Rückt keinen Millimeter nach rechts oder links. Er sitzt. Selbstverständlich, als gehöre ihm alle Zeit der Welt. Starr wie ein Fels und doch lebendiger als das Ticken der Uhr.

Ich fühle mich unbehaglich. Sollte ich nicht irgendetwas tun? Mich nützlich machen, statt ihn anzustarren? Musik hören? Ich lege Reinhard Mey auf. Ein Livemitschnitt von 1970.

Mein Gott, das war vor 54 Jahren. Mein Taschenrechner streikt, als ich versuche, 54 Jahre in jedes einzelne Tack, Tack umzurechnen.

Warum Reinhard Mey?

„…Irgendwie, irgendwann, wenn es regnet denk ich manchmal dran und dann sehe ich sie vor mir stehen…eine kleine nasse Kreatur, blickte unablässig auf die Uhr und sie wartete auf irgendwen…“

Es geht wohl um verpasste Gelegenheiten.

Was verpasst ein Steinbuddha, wenn er da sitzt und nichts macht?

Was verpasse ich, wenn ich hier  sitze, nichts mache, außer zuzusehen, wie er nichts macht?

Er lächelt.

Wie viele Jahre dauert es, bin ich diesen Moment vergessen habe? Welche Qualität muss ein Augenblick haben, damit wir ihn speichern? Was macht eine Sekunde kostbar? Sinnloses? Sinnvolles?

Mein Sohn kommt herein.

„Was war bisher der wichtigste Augenblick in deinem Leben?“ frage ich ihn und ahne schon, dass er der falsche Ansprechpartner für so eine Frage ist.

„Weiß nicht.“ quetscht er durch seine Lippen und wirft seine Zweimeterdrei  lässig auf unser Sofa.

Ich wage es, noch einmal zu fragen.

„Meine Geburt.“

„An die kannst du dich doch mit Sicherheit nicht erinnern!“

Er grinst, hievt sich aus dem Sofa hoch und verlässt den Raum.

Hat wohl keine Lust auf Kommunikation.

Mein Glas ist leer. Ich stehe ebenfalls auf, verliere den Buddha für einen Moment aus den Augen und meine philosophischen Betrachtungen aus dem Sinn. Mit einem vollen Glas in der Hand kehre ich zu meinem Platz und zu meinen Gedanken zurück.

Nichts hat sich verändert. Der Buddha sitzt da und lächelt, während um uns herum unbemerkt das Leben tobt.

Ich schließe die Augen und lasse kostbare Sekunden aus meinem Leben an mir vorüberziehen. Die Stimme meiner Großmutter fällt mir ein, der erste Blick auf meine Kinder und nebenher völlig unspektakuläre Momente.

Eine Autofahrt. Vorbei an gelben Rapsfeldern. Windräder drehen sich am Horizont, U2 dröhnt aus den Boxen und dann plötzlich passiert es. Für den Bruchteil einer Sekunde hat alles um mich herum denselben Rhythmus. Gleichklang der Welt. Zeitfenster für alle Sinne. Sein im Augenblick.

Jetzt lächle ich. Reinhard Mey singt vom Schuttabladeplatz der Zeit und ich frage mich, woran ich im letzten Augenblick auf dieser Welt wohl denken werde. An die Gesichter meiner Kinder? An das Meer?

Wehmut erfasst mich. Ein dumpfes Gefühl steigt von der Magengegend hoch in den Brustraum und endet als unangenehmes Kribbeln im Rachen. Ich nenne es das “Todesgefühl“. Es kommt, wenn ich mir vorstelle, dass es mich eines Tages nicht mehr gibt. Es kommt, wenn ich mir vorstelle, dass die Gewissheit, dass ich ich bin, sich auflöst in einem grauen Nebel aus zeitlosem Nichts. Eine endliche Geschichte. Das macht mir Angst.

Wie viele Menschen werden sich 54 Jahre nach meinem Tod noch an mich erinnern? Wie muss ich meine Zeit nutzen, damit etwas von mir bleibt? Ist es denn überhaupt wichtig, dass etwas bleibt?

Vielleicht sind es gerade die Gedanken an begrenzte Zeit, die den Augenblick so wertvoll erscheinen lassen.

„Tack, tack“ tickt die Uhr.

Ich trinke etwas, spüre, wie das Wasser durch meinen Hals fließt und beschließe, den Abend ohne Lebensplanung ausklingen zu lassen.

Mein Glas ist halbvoll oder halbleer und Zeit ist relativ. Absolut betrachtet bleiben mir vielleicht noch 40 Jahre. Genug Zeit um zu leben. Zu wenig Zeit um alles zu erleben. Genug Zeit, um vieles noch mal von vorn zu beginnen. Zu wenig Zeit um neu anzufangen.

Ich schaue meinen Buddha an, sitze, lächle ihn an und schon ist Zeit eine Ewigkeit. Nicht irgendwann, nicht irgendwo, sondern hier und jetzt in diesem Augenblick.

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