Wer an die Würde des Menschen glaubt, der verzweifelt wahrscheinlich seit geraumer Zeit an diesem Konzept. Und es wird nicht besser werden, wenn durch KI Jobs, über die wir uns heute noch definieren, wegfallen. Denn die Frage, was von uns bleibt, ist existentiell. Eine Betrachtung.
Eine Bestandsaufnahme
Eines der Jugendwörter, das es in das diesjährige Ranking geschafft hat, war „bodenlos“. Jugendliche verwenden es, wenn sie ausdrücken wollen, dass etwas besonders mies oder schlecht ist. Ich wäre dafür, neben bodenlos auch würdelos ins Portfolio aufzunehmen. Nicht nur, weil es so ähnlich klingt, sondern weil es vielleicht dazu führt, dass wir mehr darüber nachdenken, was zu tun wäre, um unserem Leben hier auf der Erde wieder mehr Würde zu verleihen. Denn erhobenen Hauptes auf den Abgrund zuzugehen, kann die Lösung nicht sein.
Der Hirnforscher Gerald Hüther hat 2019 ein kleines Büchlein zum Thema Würde geschrieben. Leider ist es in der Vielzahl an Büchern, die Jahr für Jahr erscheinen, ein bisschen untergegangen. Darum möchte ich die Gelegenheit nutzen, es noch einmal zu erwähnen. Hüther hat damals schon das Augenmerk darauf gelegt, dass unsere Art zu leben, unseren Fokus auf Effizienz, auf Wirtschaftlichkeit und Profit durchaus als würdelos zu bezeichnen sind. Auch unser Drang, die Erde und die Natur auszubeuten, erscheint nicht weniger würdelos. Statt uns dessen bewusst zu sein, wird der Begriff allerdings viel zu oft noch im Kontext der Beurteilung anderer genutzt. Würdelosigkeit steht dann im Bezug zu etwas, das bemitleidenswert, jämmerlich oder erbärmlich ist.
Der Bezug ist nicht korrekt, denn in anderen Konstellationen zeigt sich, dass Würde etwas ist, das uns von innen heraus lenkt und dass uns auch nicht genommen werden kann. Würde ist in uns, oder wie Kant schon wusste, stellt Würde einen „unerreichbaren inneren Wert dar“. Was es braucht, um diesen inneren Wert zu entwickeln, ist laut Hüther eine Art Kompass, ein Schaltungsmuster, wie er schreibt, „das sehr eng an die Vorstellung der eigenen Identität gekoppelt ist und damit zwangsläufig auch sehr stark mit emotionalen Netzwerken verknüpft ist.“ Allerdings setzt da schon das Problem an.
Wer bin ich oder wer will ich sein?
In der Regel klafft nämlich zwischen der Vorstellung von dem Menschen, der wir gern wären und der tatsächlichen Realität ein großer Graben. Verstärkt wird das insbesondere durch soziale Medien, die eine Scheinwelt vorgaukeln. Diese Diskrepanz führt nicht nur zu Spannungen, sondern sorgt auch für ein „immer mehr“. Trotz der Diskrepanz würde natürlich jede*r von sich behaupten, ein Individuum zu sein – sprich: eine eigene Identität entwickelt hat. Aber was heißt das eigentlich? Schaut man hinter die Kulisse, dann zeigt sich oft ein anderes Bild. Menschen spielen Rollen, tragen Masken, gehen Kompromisse ein. Dazu halten Menschen sich zunehmend gern alle Optionen offen, weil es ihnen immer schwerer fällt, Entscheidung zu treffen und loszulassen. Loslassen wird mit Verzicht oder sogar mit Verbot assoziiert. Und wer will heutzutage schon verzichten oder sich etwas verbieten lassen?
Wer allerdings ein authentisches Individuum sein will, muss sich entscheiden und damit auch verzichten. Er oder sie muss sich auf vielen Ebenen zu sich selbst bekennen. Und da haben wir einen weiteren Knackpunkt, denn wir leben in einer Gesellschaft, in der die Individualität zwar eine große Rolle spielt, die Rahmenbedingungen für die Entwicklung einer eigenen Identität aber nicht oder kaum vorhanden sind.
Verantwortlich dafür sind viele Faktoren – zwei Beispiele sind, dass wir nur unzureichend in der Lage sind, unsere Gefühle einzuordnen, und die Wenigsten ihre Werte kennen. Die Fähigkeit, Gefühle einzuordnen, ist in einer Empörungskultur eine immense Herausforderung. Dabei sind sie der Gradmesser unseres Seins, geben uns Orientierung und Halt. Können wir sie nicht einordnen, fehlt uns ein wichtiges Instrument für die Identitätsentwicklung.
Die Würde wieder entdecken
Und hier kommt wieder die Würde ins Spiel. Sie verbindet Gefühle und diese Vorstellung davon, wer wir sein wollen. Sie ist das, woran wir uns stets orientieren können, wenn wir etwas denken, sagen oder tun, was verhaltensbestimmend ist. Etwas, das uns vor dem Durcheinander im Kopf und im Außen schützen kann. Interessanterweise hat auch jeder Mensch ein sehr ursprüngliches Gespür dafür, was seine Würde ausmacht. Das ist ein bisschen wie mit dem Fahrradfahren – das verlernt man auch nicht mehr, wenn man es einmal verinnerlicht hat. Das bedeutet auch, dass wir auch zeitlebens die Chance haben, an dieses Wissen anzuknüpfen. Würde ist also nichts, das man lernen muss, eher geht es um eine Reaktivierung – um die, wie Hüther in seinem Buch schreibt „tiefer liegenden emotionalen Bereiche des Gehirns“, in denen das Gefühl verankert ist.
Oft bedarf es allerdings für diesen Reaktivierungsprozess einer tiefgreifenden Erfahrung – eine, die wie ein Spiegel für das eigene würdelose Verhalten ist. Menschen, die das erleben, wandeln sich meist von Grund auf und übernehmen plötzlich Verantwortung. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gemeinschaft. Sie sind gradlinig, wissen, was sie wollen und lassen sich durch all die Verlockungen und Angebote, denen wir permanent ausgesetzt sind, nicht mehr verführen.
Eine weitere Möglichkeit des Anknüpfens öffnet sich, wenn wir bereit sind, Menschen zu begegnen, deren Vorstellungen von unseren eigenen radikal abweichen. Menschen, die unser Weltbild sozusagen auf den Kopf stellen. Durch die Globalisierung und ihre Folgen werden wir zwangsläufig mit anderen Ideen und Vorstellungen konfrontiert und dadurch eröffnen sich neue Perspektiven. Natürlich nur, wenn wir uns darauf einlassen und nicht ängstlich die Tore verschließen. Wenn wir die Chance nutzen und erkennen, dass das, was uns verbindet, keine Religion, keine Wertvorstellung oder Ideologie ist, sondern die Erfahrung der eigenen Würde.
Würdevoll entscheiden
Anders zu leben als bisher, bedarf einer Entscheidung. Dabei ist es nicht notwendig, etwas über den Zaun zu brechen oder gleich wieder einen effizienten Maßnahmenkatalog aufzustellen. Würde zeigt sich oft in den kleinen Gesten des Alltags – sei es, jemanden anzulächeln, statt an ihm vorbei zu hasten oder andere zu ermutigen, statt ihnen zu sagen, was sie zu tun haben. Unser Leben würde „spürbar freudvoller, liebevoller, auch würdevoller“. Und wir würden Energie sparen. Nicht nur wir als Einzelne in unserem Körper, sondern wir alle auf diesem Planeten.
Leider sind jene, die sich ihrer eigenen Würde bereits bewusst sind und die in der Lage wären, die Zustände zu verändern, momentan in der Öffentlichkeit eher zurückhaltend. Sie gehören selten zu denen, die lautstark ihre Meinung vertreten. Sie agieren eher im Hintergrund. Aber das reicht eben oft nicht. daher wäre es notwendig, dass sie in ihrem Tun und Wirken mehr Unterstützung erfahren.
Wir sollten ihnen helfen, sich ihrer Kraft bewusst zu werden. Ihnen klarmachen, dass sie eine unglaubliche Anziehung besitzen. Menschen, die sich ihrer Würde bewusst sind, strahlen. Gut wäre außerdem, wir würden Rahmenbedingungen schaffen, damit sie „aufwachen“ können, denn dann könnten sie dazu beitragen, dass wir neben all dem Fortschritt, der uns immer begleitet, wieder eine Vorstellung von uns selbst entwickeln oder sie im Sinne der Würde verändern. Dann können wir auch Antworten auf die Frage finden: Wer bin ich in dieser Welt? Wer bin ich, wenn alle Gewissheiten, wenn all das, worüber ich mich definiert habe, wegbricht? Was bleibt?
Info zum Buch:
Würde: Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft
Gerald Hüther
Pantheon Verlag 2019
ISBN: 978-3570553930
Preis Paperback: 15 Euro