geschrieben von Dr. Gabor Maté mit Daniel Maté – eine Buchrezension
Meine erste Begegnung mit dem Psychologen Dr. Gabor Maté hatte ich als Jurorin für das Cosmic Cine Festival. Bei der Sichtung der eingereichten Filme fiel mir eine Dokumentation besonders auf: „CRAZYWISE“ von Phil Borges. Der Film thematisiert, wie unsere Gesellschaft psychisch auffällige Menschen ausgrenzt und mit Medikamenten ruhigstellt, während sie in anderen Kulturen als Weise, Heiler oder Visionäre gesehen und integriert werden.
Matés ruhige und bestimmte Art hat mich auf Anhieb gefesselt und neugierig gemacht, sodass ich geschaut habe, ob es noch mehr über ihn und seine Arbeit zu erfahren gibt. Ich wurde fündig, habe mittlerweile einige seiner Bücher gelesen sowie die Filme mit/von ihm geschaut, unter anderem „Der weise Schmerz der Seele“, in dem es vorrangig um Sucht und ihre Ursachen geht.
Das neue Buch „Vom Mythos des Normalen – Wie unsere Gesellschaft uns krank macht und traumatisiert – Neue Wege zur Heilung“ fasst seine bisherigen Arbeiten gut zusammen und erweitert sie gleichzeitig um die gesellschaftliche Ebene. Zwar steht auch in diesem Buch das Individuum im Zentrum, trotzdem liegt der Fokus mehr darauf, welchen Anteil Gesellschaft, Politik, Unternehmen, Kapitalismus, Bildungseinrichtungen etc. daran haben, dass Süchte, Krankheiten oder psychische Auffälligkeiten zunehmen und zunehmend chronisch werden. Im Grunde erzählt Maté die Metapher des Frosches, der im sich langsam erwärmenden Topf mit Wasser sitzt und gar nicht merkt, dass er gekocht wird, bis es zu spät ist. „Wir neigen dazu zu glauben, was normal ist, sei auch gesund. Doch was ist eigentlich die Norm in westlichen Gesellschaften und ihren Gesundheitssystemen?“
Schwere Kost?
Auf dem Cover des Buches steht, dass es ein lebensbejahendes Buch ist. Ich stimme dem zu, denn obwohl ich mehr als einmal innehalten musste, um das Gelesene zu verdauen, zeigt Maté Wege auf, die uns aus der Krise der toxischen Normalität führen könnten. Ich schreibe bewusst könnten, denn ich fürchte, dass wir kollektiv momentan nicht dazu in der Lage sind: Zu schnell drehen sich die Räder, eine Vollbremsung würde uns aus den Sitzen schleudern. Und weil das alle wissen, machen wir weiter. Während ich diesen Text hier schreibe, brennen auf Rhodos die Wälder und zehntausende Urlauber*innen werden evakuiert. Trotzdem landen weiter Flugzeuge mit Tourist*innen auf der Inseln. Die meisten Menschen wollen das Offensichtliche nicht sehen und behaupten stattdessen, dass wir uns daran gewöhnen müssen.
Das klingt wie ein Mantra zur Selbstberuhigung und am Ende ist es das auch, während „the gap between the train and the platform“ im übertragenden Sinne immer größer wird. „Die Menschheit steht angesichts der Klimakrise vor extrem schwierigen und folgenreichen Herausforderungen; viele Regionen der Welt sind bereits verwüstet und das Leben auf dem Planeten selbst ist bedroht. Meines Erachtens veranschaulicht kein Thema das soziopathische Verhalten der Verantwortlichen deutlicher: Sie sitzen in Unternehmen und Regierungen und waren schon lange vorgewarnt, haben aber die Bedrohung um des Profits oder der Macht willen jahrzehntelang verharmlost oder geleugnet.“ Die Klimakrise ist ein Beispiel von vielen, die Maté anreißt.
Stress und Kommerz
Erich Fromm hat in seinem Buch „Wege aus einer kranken Gesellschaft“ geschrieben: „Die Tatsache, dass Millionen von Menschen die gleichen Laster haben, macht diese Laster nicht zu Tugenden (…).“ Maté stellt dieses Zitat seinem Buch voran und zeigt damit gleich zu Beginn, dass eigentlich nichts von dem, was er schreibt, unbekannt ist. Gleichzeitig haben die Menschen seiner Ansicht nach „ideologisch blinde Flecken“. „Sie halten uns davon ab, unsere missliche Lage zu erkennen und, besser noch, etwas dagegen zu unternehmen. (…) Meiner Meinung nach erzeugt unsere soziale und wirtschaftliche Kultur ihrem Wesen nach chronische Stressfaktoren.“ Stress löst in unserem Körper vielfältige Reaktionen aus und wenn selbst die Stressreduktion (man denke an Achtsamkeitsseminare, Bücher, APPs etc.) mittlerweile eine Industrie sind und zu einem stressauslösenden Faktor werden, dann kann doch irgendetwas nicht stimmen.
Wo befindet sich der Notausgang?
Stellenweise schleicht sich beim Lesen angesichts der Wucht an Fakten eine Art Schwere ein (auch das Buch ist mit über 600 Seiten nicht gerade leicht), die durchaus in Traurigkeit münden kann. Maté schafft es aber durch viele Praxisbeispiele und die Geschichten von Menschen, die sich aus hoffnungslos scheinenden Situationen befreit haben, immer wieder, dass man als Leser*in nicht in Resignation versinkt. Er weiß sehr genau, dass das kontraproduktiv wäre und ein „Jammerbuch“, in dem nur die schrecklichen Umstände beklagt werden – das passt auch einfach nicht zu ihm.
Maté gibt den Wegen zur Ganzheit, die für ihn der Schlüssel sind, über 200 Seiten Raum. Auf diesen Seiten beschreibt er den Unterschied zwischen Heilung und Genesung, er schreibt, wie die Anerkennung des individuellen und des globalen Leiden ein erster Schritt wäre und zeigt konkrete Schritte für jeden Einzelnen auf dem Weg zum Selbst auf, denn Authentizität ist für ihn ein Meilenstein, wenn Heilung das Ziel ist.
Zudem legt er schlüssig und faktenreich dar, welche Kraft und Bedeutung Bindungen haben und dieser Teil ist besonders wertvoll, denn Maté befreit sie immer wieder von der Schuld-Last, in die wir so schnell rutschen, wenn wir nach Ursachen für die Dramen unseres Lebens – individuell und global – suchen.
Fazit:
Sich mit dem Werk von Gabor Maté auseinanderzusetzen, ist ein Gewinn. Ich würde das Buch „Vom Mythos des Normalen“ nicht herausstellen – ich würde sogar empfehlen, sich vorher mit den anderen Arbeiten von Maté zu beschäftigen. Er hat unzählige Kolumnen geschrieben, es gibt, wie schon gesagt, Dokumentationen und sein Buch „Im Reich der hungrigen Geister – Auf Tuchfühlung mit der Sucht“ ist eine Offenbarung für Jede*n, der/die sich mit den eigenen Süchten auseinandersetzen will. Ich persönlich bin sehr dankbar dafür, dass ich auf sein Werk gestoßen bin, für mich birgt es immer wieder Anstöße, die eigenen Überzeugungen und Sichtweisen zu hinterfragen und die Perspektive zu wechseln.
„Vom Mythos des Normalen“
Dr. Gabor Maté mit Daniel Maté
aus dem Amerikanischen von Annegret Hunke-Wormser, Elisabeth Möller-Giesen
Originaltitel: The Myth of Normal. Trauma, Illness & Healing in a Toxic Culture
Originalverlag: Avery (PRH US)
Hardcover mit Schutzumschlag, 624 Seiten, 15,0 x 22,7 cm, 2 s/w Abbildungen
ISBN: 978-3-466-34798-8
Erschienen am 24. Mai 2023 bei Kösel: https://www.penguinrandomhouse.de/Buch/Vom-Mythos-des-Normalen/Gabor-Mate/Koesel/e610550.rhd
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