Heute wird es politisch. Und es wird persönlich. Ich sage das vorab, weil ich weiß, dass einige Leserinnen und Leser das nicht mögen. Sie wollen am Samstagmorgen oder wann immer sie das Internet öffnen, keine schlechten Nachrichten oder Betroffenheitsbekundungen lesen, sondern unterhalten werden. Ich verstehe das. Aber der Tod Nawalnys macht etwas mit mir. Er fasst mich auf einer tiefen Ebene an, so wie mich der Überfall des Putin-Regimes auf die Ukraine in meinen Grundfesten erschüttert hat und bis heute erschüttert. Darüber möchte ich reden.
Ich weiß, woher meine Betroffenheit rührt. Sie kommt aus der Zeit, in der ich in der DDR festsaß und darauf gewartet habe, dass man meine Ausreise genehmigt und ich zu meiner Mutter kann, die bereits in Westberlin lebte. Fast zwei Jahre hat die DDR mich festgehalten, wurde ich von Polyesterblousons oder Präsent 20 Anzüge tragenden Männer in weißen Ladas bespitzelt, haben mich Mitarbeiter des Ministeriums des Innern drangsaliert. Gründe, warum ich nicht gehen konnte, nannte niemand. Ein Datum, wann ich ausreisen könnte, auch nicht.
Ich weiß nicht, welchem Umstand ich es zu verdanken habe, dass ich damals nicht verhaftet wurde. Anlässe dafür hätte es gegeben – mein Brief an Erich Honecker, der Versuch, mit einem in Westberlin lebenden Anwalt in Verbindung zu treten, der sich um solche Fälle kümmerte. Andere sind für weniger nach Torgau gekommen. Aber die Frage nach dem Warum spielt heute keine Rolle mehr – das was war, hat ausgereicht, mein Innerstes zu politisieren und mir einen Seismographen zu implantieren, der ausschlägt, wenn Menschen Willkür gegenüber anderen ausüben oder ihre eigenen Machtgelüste über die Freiheit anderer stellen.
In der Zeit des Wartens hat mich das diktatorische System geformt. Ich war 19 – ein Alter, in dem man seine Identität sucht, sich abgrenzt, eigene Wege gehen will. Stattdessen sah ich mich gefesselt in einem System, das seine Macht über Angst und Druck aufgebaut hatte und sie mit eben diesen Methoden aufrecht erhielt. Wer mir heute erzählt, dass die DDR doch eigentlich ganz schön war, weil alle so solidarisch gewesen wären, der blendet einen Fakt vollkommen aus. Solidarität ist oft das Einzige, was bleibt, wenn Menschen von einem autoritären oder totalitären Staat gegängelt werden.
Dasselbe lässt sich an Russland ablesen. Auch dort sind die Menschen untereinander solidarisch. Müssen sie auch sein, aber unter der Zugewandtheit liegt Angst. Angst, einen Fehltritt zu landen, Angst, der Willkür eines diktatorischen Machthabers zum Opfer zu fallen. Die Angst davor, dass das Gegenüber doch weniger solidarisch ist, als gedacht. Und die Angst, der nächste zu sein, der verhaftet wird oder aus dem Fenster stürzt.
Nawalny hat sich dagegen aufgelehnt. Dass er sterben musste, so wie viele Oppositionelle vor ihm, zeigt die Brutalität und Menschenverachtung des Putin-Regimes. Die absolute Skrupellosigkeit, mit der Putin und seine Handlanger agieren. Da geht es nie um Leben, nie um Menschen, sondern nur um Macht. Putin verpackt das geschickt. Der Politologe Samuel Greene schreibt dazu in „Putin vs. the People“:
„Da er sich nicht nur auf Zwang von oben, sondern auch auf gesellschaftliche Unterstützung stützt, muss Putins Macht durch aggressive Kampagnen sowohl in der Öffentlichkeit als auch hinter den Kulissen aufgebaut werden. Dabei ist der Kreml kreativ und anpassungsfähig und setzt zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Strategien ein.“
Kreativ und anpassungsfähig. Und nun einmal mehr ein Mord. Als Zeichen. So, wie jeder Tote an der Mauer ein Zeichen war. Eine Mahnung an alle, die Freiheit für ein hohes Gut hielten.
Hier und da ist jetzt schon zu lesen, Nawalny hätte sich zum Märtyrer hochstilisiert. Wer so etwas schreibt, hat nie unter einem totalitären und menschenverachtenden System gelebt. Ich wünsche das keinem. Und ich hoffe, dass der Tod Nawalnys auch eine Mahnung in dem Sinne ist, Autokraten, Diktatoren und Despoten keine Hände zu reichen. Und sie auch nicht durch Wegschauen zu unterstützen.
Niemand ist unpolitisch in einer politischen Welt. Aber wir können entscheiden, wem unsere eigene Politik dienen soll. Selbst an einem Samstagmorgen.
In Gedenken an Alexei Anatoljewitsch Nawalny.
Willst Du mehr über das System Putin erfahren? Dann empfehle ich Dir das Buch:
„Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste“ von Catherine Belton