Ich weiß nicht, wie oft man sein Herz an eine Stadt verlieren kann, ob es ein Limit gibt, man irgendwann damit aufhört, sich in Städte zu verlieben. Ich weiß nur, dass Wien mein Herz im Sturm erobert hat. Im Herbststurm, um genau zu sein. An einem trüben Novembertag mit dicken Schneeflocken und Temperaturen um den Gefrierpunkt.
Nun war ich ein weiteres Mal in der Kaiserstadt, das Wetter hätte gegensätzlicher nicht sein können: Die Sommer sind heiß in Wien, sehr heiß. Aber das tut meiner Liebe keinen Abbruch.
„Darf’s no wois sei, gnädige Frau?“ Schon allein die Frage, das langgezogene ä, der herablassende Blick, der nicht mir gilt, sondern irgendwohin in die Ferne wandert. Wer, so wie ich, mit DDR-Gastro-Arroganz sozialisiert ist, wird dahinschmelzen. Ich habe mich an vielen Orten, in vielen Situationen gefragt, warum mir Wien so vertraut ist und die Antwort ist kurios. In Wien erinnert mich vieles an die DDR. Nicht die Optik, nicht das Flair, auch nicht die Karl-Marx-Höfe und die vielen Fassaden, die mit Mosaiken verziert sind.
Es ist etwas, das als einzig Gutes aus meiner DDR Vergangenheit zurückgeblieben ist und das mich auf der emotionalen Ebene anfasst: eine Art linker Geist. Einer im besten Sinne. Einer, der Gemeinschaft auch so meint und sich trotzdem ein bisschen aristokratische und nationale Überheblichkeit bewahrt. Und natürlich ist das oberflächlich und subjektiv, schaut man tiefer, zeigt sich, dass auch dieser Geist oft Fassade ist, oder sich gegen Kommerzialisierung kaum wehren kann. Trotzdem ist er da.
Kulturzentrum Amerlinghaus
Ein Beispiel für das, was ich meine, ist das Kulturzentrum Amerlinghaus mit seinem Amerlingbeisl. Ein Ort, der vor, während oder nach einem Einkaufsbummel in der Mariahilfer Straße eine wunderbare Anlaufstelle ist. Ein bisschen versteckt liegt das Gebäude mit dem innenliegenden Hof in der Stiftgasse 8 und versprüht dort seinen alternativen Charme. In dem ein bisschen indisch angehauchten Flair, weisen die Slogans, die Plakate gegen rechts, die Veranstaltungsplakate und das Publikum den aufmerksamen Beobachter*innen schnell auf die Ausrichtung des Ortes hin, selbst wenn man den Ort komplett ahnungslos betrifft.
Wer mehr wissen und in die Geschichte eintauchen will, wird auf der Webseite fündig – seit 1970 gibt es das Zentrum, ursprünglich ein komplett autonomes Projekt, ein Stadtteilzentrum, eine Hausbesetzung.
Ziel war, „zusammen mit Personen aus der Nachbarschaft, Kindern und Jugendlichen, Erwachsenen und alten Menschen einen selbstbestimmten und selbstverwalteten Ort der Kommunikation und der kulturellen Aktivität im Grätzl zu schaffen.“
Für mich ist das Amerlinghaus ein Paradebeispiel dafür, wie schwierig es in unserer Zeit und unserer Gesellschaft ist, Gemeinschaft, die im größeren Stil funktionieren soll, wirklich zu leben.
Was sich hier wie in einem kleinen Biotop zeigt, lässt sich aufs große Ganze übertragen, zeigt, wie wichtig solche Projekte sind und wie abhängig sie gleichzeitig von Förderungen sind.
Überall Wagner
Vor ein paar Jahren gab es mal eine Aktion der „Freischreiber“ – ein Verein, der die Interessen der freien Journalisten vertritt. Um zu verdeutlichen, wie sehr unsere Medienlandschaft durch die Arbeit der Freien geprägt ist, haben sie gezeigt, wie eine Zeitschrift ohne die Artikel von Freien aussehen würde. Um es kurz zu machen, es war ein löchriges Stück Papier. Würde man aus Wien alle Bauten von Otto Wagner entfernen, sähe die Stadt ähnlich löchrig aus. Brücken, Gebäude, Geländer, U-Bahnhöfe, die Nussdorfer Wehr- und Schleusenanlage – im Grunde stolpert man an jeder Ecke in Wien über Otto Wagner. Gut so, denn was er geplant hat, hat Stil.
Wenn Du also mal in Wien bist und Zeit hast, kannst Du eine Wagner-Stadt-Rallye veranstalten, die garantiert nicht langweilig wird. Mein persönliches Highlight war die Wehr- und Schleusenanlage, an der auch ein Radweg entlangführt. Um genauer zu sein, der Donaukanal Radweg, der vom Wehr bis zum Wiener Hafen führt.
Auch Wagner trieb der Wunsch an, etwas für die Gemeinschaft zu schaffen. Die in seiner Zeit explosionsartig wachsende Einwohnerzahl Wiens schrie förmlich nach einem neuen Wohn- und Verkehrskonzept.
Wagner war kein Freund von Vereinzelung, Einfamilienhäuser lehnte er ab. Er wollte etwas schaffen, das urbanes Leben, Fortschritt und die Bedürfnisse moderner Stadtbewohner verband. „Etwas Unpraktisches kann nicht schön sein“ – so sein Postulat.
Das Ergebnis dieses Denkens und Wirkens waren beeindruckende Geschosswohnungsbauten und ein für damalige Verhältnisse hochmodernes Transportsystem aus 42 Viadukten, 78 Brücken und 34 Haltestellen, dazu ein kreuzungsfreies Streckennetz von 38 Kilometern. Otto Wagner war einer der Wenigen, der Stil, moderne Ingenieurskunst, Projektmanagement und Vertrieb verband. Ein Generalist, der seines Gleichen sucht.
Wer es schön haben will…
muss nach oben. Das gilt auch für Wien. Egal, ob man es sich in einer der vielen Rooftop-Bars gemütlich macht oder auf die umliegenden Hügel wandert – der Blick über die Stadt ist ein Erlebnis. Und am besten genießt man den in einem der vielen Heurigen, für die Wien wohl ebenso bekannt ist, wie für die Hofburg der Kaiserfamilie und den Prater.
Da wir in Ottakring, also im 16. Bezirk gewohnt haben, führte unser Weg hoch zum Weinbau Leitner, einem Heurigen, dessen Größe auf den ersten Blick nicht ersichtlich erst. Erst wenn man am Tresen vorbei Richtung Weinberg geht, öffnet sich das erhabene Bild.
Und wenn es abends ist und der Stadt so nach und nach die Lichter angehen, während der Himmel dunkler wird, möchte man eigentlich ein keinem anderem Ort dieser Welt sein.
Wichtig ist, vorher anzurufen und einen Tisch zu reservieren.
Ein Koffer in Wien
Wenn ich nach diesen Tagen in Wien eins weiß, dann ist es, dass ich wiederkommen werde. Dass ich Wien so erleben möchte, wie die Menschen, die dort leben. Vielleicht bleibe ich mal für länger, wer weiß. Eine Freundin, die an den Rand von Wien gezogen ist, meinte, dass sich hier alles fügt. Dass man das Leben hier leichter, gelassener nimmt.
Vielleicht ist es auch das, was mich anzieht. Diese Stadt hat so viel erlebt, viel ausgehalten, viel weggeatmet und ist trotzdem – nun schon zum dritten Mal hintereinander – zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt worden. Kriterien für dieses Ranking sind: Gesundheitsversorgung, Bildung, Infrastruktur und Kultur – Gemeinschaft eben.