Vor einiger Zeit war ich auf Rügen. Die meisten kennen die größte Insel Deutschlands, haben dort schon Urlaubszeit verbracht, waren in der Ostsee baden. Sie haben Bernsteine gesucht oder riesige Eisbecher in italienischen Lokalen auf Strandpromenaden gegessen, deren Besitzer oder Angestellte vermutlich nicht ein einziges Mal in ihrem Leben in Italien waren. Sei es drum.
Ich kenne Rügen seit meiner frühesten Kindheit. Als ich drei oder vier war, hat mich eine Ostsee-Welle fast verschluckt, später sind wir mit einem Schubboot von Schaprode nach Hiddensee gefahren. Als junge Erwachsene habe ich dort wilde Nächte erlebt oder habe am Strand geschlafen. Und noch später bin ich als Mutter mit meinen Kindern durch den feinen Ostseesand gerobbt, wurde eingegraben, bin mit dem Rasenden Roland gefahren oder habe verträumt den weichen Sand durch die Finger rieseln lassen.
Die Insel Rügen löst heute stets ein bisschen Wehmut bei mir aus – Wehmut und Sehnsucht nach vergangenen Tagen und Stunden, die niemand mehr wiederbringt. Die vorbeigeflossen sind und nun als Erinnerung in allen Ostseefarben leuchten.
Vor allem in dem romantischen Licht, das sich kurz nach dem Sonnenuntergang über das Binnenmeer legt und zum Träumen einlädt. Man nennt diese Zeit „blaue Stunde“ und jetzt, da ich es schreibe, fällt mir auf, dass die Assoziation zu dem, was nun folgt, fast besser nicht sein kann.
Ich kann wohl kaum verbergen, dass es mir ernst ist mit meiner Liebe zur größten Insel Deutschlands und zu dem Meer, das sie, teils als Bodden umspült.
Umso erstaunter war ich, als ich im Urlaubsort ankam und mein erster Spaziergang mich vorbei an Menschen führte, die T-Shirts mit der Aufschrift „White love matters“ trugen. Dass auf der Insel die AfD große Zustimmung erfährt, war mir bewusst. Aber dass eine rechte Gesinnung so offen präsentiert wird, nicht.
Es blieb nämlich auch nicht bei der einen Begegnung. Am nächsten Tag beim Einkauf im ansässigen Supermarkt blitzte mir von der Wade des Verkäufers die „Schwarze Sonne“ entgegen – 12 gespiegelte Siegrunen im Ring angeordnet, ein eindeutiges Erkennungszeichen unter denen, die sich erkennen wollen.
Und als ob es das Normalste von der Welt wäre, bediente er Kund*innen, machte Scherze mit dem Verkaufspersonal und half dem Neuling an der Kasse. Der nette Nazi. Mir fiel das Buch von Juli Zeh ein: Über Menschen. Die Geschichte einer Frau, die neben einem Neonazi in Brandenburg einzieht. Mich hat das Buch damals ziemlich ratlos zurückgelassen. Ebenso wie diese Begegnungen auf Rügen.
Was soll das? Es gibt ihn nicht, den netten Nazi. Da ist ein Mensch, der vertritt eine Gesinnung, die vor mehr als 80 Jahren dazu geführt hat, dass Millionen andere Menschen ermordet wurden. Hallo, Rügen? Seht ihr noch klar? Ihr toleriert Rassismus und Ausgrenzung. In einer Region, die darauf angewiesen ist, dass Urlauber*innen kommen.
Schon im letzten Jahr ist die Zahl der Touristen leicht zurückgegangen und ganz ehrlich – ich kann das verstehen. Das Preisniveau in den Gaststätten liegt hoch. Unter 20 Euro ist kaum mehr ein Gericht zu bekommen und nur von Fischbrötchen will man sich nicht ernähren. Und auch die Stimmung: Freundlich ist anders.
Ich hatte in der Woche den Eindruck, ganz viel ausblenden zu müssen, um mich wohlfühlen zu können. Wohlwissend, dass all das, was in dieser Region passiert, Ursachen hat.
Der Spagat zwischen Bäderluxus, extremer Gentrifizierung und dem nach wie vor stattfindenden Zerfall von Strukturen ist gigantisch. So etwas kann auch kein schöner Strand und keine Ostsee kompensieren. Man spürt diese Zerrissenheit.
Trotzdem ist das kein Grund, offen Symbole zu tragen, die den Nationalsozialismus und eine weiße Rassenlehre verherrlichen. Ich habe noch nicht gesehen, dass ihr aufsteht oder aufgestanden seid. Dass ihr euch gegen jene widersetzt, die diese Region mit Spekulationen verheizten. Warum wehrt ihr euch nicht gegen die, sondern hetzt gegen Geflüchtete? Warum legt ihr nicht in der Hauptsaison die Arbeit nieder, bis man euch anständig bezahlt?
Auf meiner Suche nach Antworten ist mir ein Video begegnet, das der WDR vor sieben Jahren veröffentlicht hat. Darin ist gut aufbereitet, was schiefläuft. Mich berührt das alles sehr. Und trotzdem oder gerade deshalb habe ich entschieden, keinen Urlaub mehr auf Rügen zu machen. Und zwar so lange, bis die Verhältnisse sich ändern. Mich hat die Insel verloren.