Warum Sahra Wagenknecht die Demokratie gefährdet
Nicht erst seit ihrem „Manifest für den Frieden“ gilt Sahra Wagenknecht als Politikerin als umstritten. Ob in der ehemals eigenen Partei, wo immer mal wieder ihr Ausschluss gefordert wurde oder in der Presse – der Tenor lautet: Sahra Wagenknecht würde polarisieren, spalten oder mit ihrer Rhetorik nicht selten die Argumentation der AfD bedienen. Also der Partei, die der Die Linke in der Parteienlandschaft eigentlich gegenübersteht. Und dass Björn Höcke Sahra Wagenknecht dazu einlud, Mitglied der AfD zu werden, ist nur ein Puzzleteil der Geschichte: „Ich bitte Sie, kommen Sie zu uns“, sagte er auf einer Veranstaltung und fügte an, dass Wagenknecht in seiner Partei anders als bei den Linken dann endlich jene Politik machen könne, von der sie träumt.
Viele bezeichnen Wagenknecht als populistisch, nicht zuletzt, weil sie das, was sie sagt, in einfache emotionale Botschaften verpackt und in ihren Forderungen nach politischen Veränderungen, insbesondere in Bezug auf soziale Gerechtigkeit und die Verteilung von Ressourcen, immer wieder auch Elitenkritik anbringt. Das verleitete Focus-Autor Hugo Müller-Vogg dazu, Wagenknecht in einem Artikel „demagogisches Talent“ zu bescheinigen und sie die „gefährlichste Frau Deutschlands“ zu nennen, die eine bestimmte „Masche“ hat, die Menschen einzufangen.
Leo Löwenthals „Falsche Propheten“
Wohlmöglich ist „Masche“ ein anderes Wort für das, was der Literatursoziologe Leo Löwenthal in seinem Buch „Falsche Propheten“ als „politische Agitation“ bezeichnet. Löwenthal führte in den 1940er Jahren eine der ersten umfassenden Studien über Propaganda durch. In seiner Arbeit „Propaganda Technique in the World War“ hat er verschiedene Techniken und Strategien der Propaganda identifiziert und analysiert. Für ihn geht der Agitator „seine Zuhörer nicht von außen her an; vielmehr gibt er sich wie jemand aus ihrer Mitte, der ihre innersten Gedanken formuliert. Er rührt das auf und drückt das in Worten aus, was in ihnen schlummert“. So auch Sahra Wagenknecht, die selbst immer wieder betont, dass es ihr um die Menschen geht. Im Falle der Ukraine darum, das Sterben zu beenden, was man ihrer Ansicht nach nur durch Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland erreicht. Und im Falle ihres Buches „Die Selbstgerechten Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ dreht sich ihre Besorgnis um die einfachen Arbeiter*innen, in denen sie die Verlierer*innen der, ihrer Auffassung nach, linksliberalen Lifestyle-Politik sieht.
Ist das noch Populismus oder schon Propaganda?
Grundsätzlich ist der Propagandabegriff natürlich umstritten, was daran liegt, dass ihn eine gewisse Unschärfe auszeichnet. So kann man ihn durchaus als ganz neutralen Begriff für die Verbreitung von Informationen und Ideen nutzen. Aber eben auch negativ konnotiert als Begriff für die Manipulation von Informationen und Meinungen. Die wissenschaftliche Forschung zum Thema Propaganda hat sich allerdings auf die manipulative Verwendung konzentriert. „Propaganda zeichnet sich durch die Komplementarität vom überhöhten Selbst und denunzierendem Fremdbild aus und ordnet Wahrheit dem instrumentellen Kriterium der Effizienz unter. Ihre Botschaften und Handlungsaufforderungen versucht sie zu naturalisieren, so dass diese als selbstverständliche und nahe liegenden Schlussfolgerungen erscheinen“, so der Aitor Thymian Bussemer.
Aber was unterscheidet Propaganda von Populismus? Während Propaganda die gezielte Verbreitung von politischen Ideen, Meinungen oder Informationen ist, die darauf abzielt, das Denken und Verhalten der Menschen zu beeinflussen und zu manipulieren, eine bestimmte Perspektive zu fördern und andere zu unterdrücken, um politische oder ideologische Ziele zu erreichen, bezieht sich Populismus hingegen auf eine politische Strategie. Diese zielt darauf ab, das Volk oder eine ausgewählte Gruppe gegen eine vermeintliche Elite oder Establishment zu mobilisieren. „Die da oben schaden euch!“, wäre eine populistische Formulierung. Populistische Politiker*innen versuchen, das Vertrauen des Volkes oder jener Gruppen zu gewinnen, indem sie sich als “ ihre Stimme“ präsentieren und versprechen, ihre Interessen zu vertreten. Populismus kann durchaus auch Elemente der Propaganda enthalten, indem populistische Politiker gezielt falsche oder übertriebene Informationen verbreiten, um ihre Anhänger zu mobilisieren. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Populismus eher ein politischer Stil ist, der sich durch eine anti-elitäre Rhetorik, einfache und emotional ansprechende Botschaften sowie die Mobilisierung der Bevölkerung gegen eine vermeintliche politische Elite auszeichnet. Populismus kann sowohl auf der politischen Linken als auch auf der politischen Rechten auftreten. Der Unterschied zwischen Propaganda und Populismus besteht also darin, dass Propaganda eine Technik ist, um politische Botschaften zu verbreiten, während Populismus eine politische Strategie ist, die darauf abzielt, das Vertrauen des Volkes zu gewinnen und eine politische Bewegung zu mobilisieren. Populistische Politiker können Propaganda verwenden, um ihre Botschaften zu verbreiten, aber nicht alle Propaganda ist populistisch.
Wagenknecht als falsche Prophetin?
Einen wichtigen Platz in Löwenthals Analyse nimmt die „gesellschaftliche Malaise“ ein. Ihr widmet er ein ganzes Kapitel. Gemeint ist „die spezifische, gesellschaftlich bedingte Unzufriedenheit“, die sozusagen den Nährboden für das Fruchten der Agitation bietet. Sie umfasst laut Löwenthal wirtschaftliche Beschwerden, politische Beschwerden, kulturelle Beschwerden und moralische Beschwerden und jede einzelne bietet Anknüpfungspunkte für die Agitator*innen, ohne jedoch konkrete Lösungen aufzuzeigen. Das ist auch gar nicht der Punkt, vielmehr geht es darum, dass das „Volk“ sich verstanden fühlt.
Wie geschickt Agitator*innen mit diesem Unbehagen spielen, zeigt sich darin, dass sie sich – obwohl sie selbst von den benannten „Beschwerden“ eher selten betroffen sind, da sie meist in einem ganz anderen Milieu zu Hause sind, trotzdem als „einer von euch“ ausgeben, die Menschen virtuell an die Hand nehmen, sie mit ihren Gefühlen und Unzufriedenheiten abholen. Wir gegen die Eliten heißt die Parole. Denn die Eliten belügen und betrügen das Volk, ziehen ihnen das Geld aus der Tasche oder bevorzugen ihresgleichen. Damit degradieren Agitator*innen ihre Zuhörerschaft zu Opfern, die sich nicht selbst helfen können, sondern jemanden brauchen, der sie aus dieser Malaise befreit. „Indem er seine Anhänger einfältig nennt und ihnen nahelegt, sich seiner Führung zu überlassen, wenn sie nicht länger betrogen werden wollen, verspricht der Agitator seinen Anhängern, daß er für sie sorgen und denken wird.“, so Löwenthal.
Und Sahra Wagenknecht? Bedient sie das? Nehmen wir ihr Buch „Die Selbstgerechten“. Darin bezieht sie sich auf die politische Debatte in Deutschland 2020/21, thematisiert neben dem politischen Mainstream den Verfall der Arbeiterbewegung und formuliert insbesondere im ersten Teil eine Pauschalkritik an der heutigen Linken. Dass Wagenknecht mit dem, was sie schreibt, auf großes Interesse trifft zeigen die Rezensionen bei amazon. 2168 Bewertungen hat sie dort bekommen – 78 Prozent davon mit fünf Sternen, was bei amazon die höchste Bewertungskategorie ist. Lediglich zwei Prozent der Leser*innen kritisierten das Buch und vergaben nur einen Stern.
Auch das Medienecho fiel überwiegend positiv aus, im Handelsblatt bescheinigt ihr Thomas Tuma eine „glasklare Analyse“ und ein „klares Profil“, während der Spiegelautor Tobias Becker fragt: „Flirtet Sahra Wagenknecht in ihrem neuen Buch mit Rechtspopulisten? Nicht weniger interessant ist die Resonanz bei den eher konservativen bis rechtskonservativen Blättern: Der Kopp-Verlag, der für das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemsberg ein sogenannter „Prüffall“ ist, lobt das Buch in höchsten Tönen.
Aber es gibt auch Kritik, die sich immer wieder auch auf die Person Wagenknecht bezieht, wie bei Geyer-Hindemith in der Frankfurter Allgemeinen: „Die Kunst der Irreführung durch Locksignale gibt ihr dort etwas Zauberhaftes und Leichtes, Erfolge scheinen mit leichter Hand hergestellt und Misserfolge nicht wirklich ins Gewicht zu fallen; über den Flop ihrer Sammlungsbewegung „Aufstehen“ spricht Wagenknecht heute nur noch anekdotisch.“
Stereotype und Feindbilder
Eine der Techniken der Propaganda, die Löwenthal identifiziert hat, ist die Verwendung von Stereotypen. Stereotypen sind vereinfachte und verallgemeinerte Vorstellungen über eine Gruppe oder eine Person, die dazu dienen, eine bestimmte politische Agenda zu fördern und den politischen Diskurs zu verzerren. In „Die Selbstgerechten“ gibt es zahlreiche Beispiele für die Verwendung von Stereotypen, wobei ich sie hier eher als populistisch einordnen würde.
Immer wieder im Zentrum stehen bei Wagenknecht die „Lifestyle-Linken“, allerdings scheint diese Gruppe fluide, sie taucht im Buch in ganz unterschiedlichen Bildern auf: zum Beispiel als „der vermeintlich grüne Linksliberalismus, den man vor Jahren noch für eine arglose Spinnerei von großstädtischen Bio-Bohemiens und satten Wohlstandskids hätte halten können (…)“; „links fühlende Twittergemeinde“; „Twittermeute“; „gut situierte Helikoptereltern“; „Moralisten ohne Mitgefühl“ „Bio-Konsumenten“ oder „wohlhabende Akademiker“. Bezugnehmend auf die Teilnehmer*innen der Unteilbar-Demonstration schreibt Wagenknecht: „Die Teilnehmer kommen überwiegend aus Groß- und Unistädten, sie haben meist akademische Abschlüsse oder arbeiten gerade daran, und das Durchschnittseinkommen der Versammelten liegt zuverlässig oberhalb des Durchschnitts der Bevölkerung, auch wenn das nicht heißt, dass jeder auf dem Platz wohlhabend ist“.
Wagenknecht unterstellt der Denkströmung des modernen Linksliberalismus schon auf der ersten Seite, in einem der Ausgabe von 2021 hinzugefügten Vorwort, dass sie sich „über Lifestylefragen und moralische Haltungsnoten definiert und dabei die Privilegien gut situierter Großstadtakademiker mit persönlichen Tugenden verwechselt“. Im Grunde zieht sich diese Zuschreibung durch das gesamte Buch. Ampelpolitiker würden wie Getriebene taumeln und jede*r, der irgendwie von der selbstgesteckten Morallinie abweicht, würde niedergemacht. Wagenknecht brilliert darin, mit Zuschreibungen ein Feindbild aufzubauen, das sie über ganz diverse Gruppierungen und auch Themen spannt – Hauptsache es passt in ihr vorgezeichnetes Bild. Statt berechtigte Kritik anzubringen und faktenbasierte Ursachenforschung zu betreiben (wozu sie als Ökonomin durchaus im Stande wäre), meint sie, die Schuldigen ausschließlich bei denen zu finden, die aufgrund ihrer Hypermoral die fleißig arbeitende, tugendhafte und stets benachteiligte Sozialschicht abwerten und von allem ausschließen – von Bildung, sozialem Aufstieg, Gemeinschaft und von Teilhabe.
Insgesamt wird die Linke, die in Wagenknechts Augen zur „Lifestyle-Linken“ verkommen ist, an vielen Stellen als naiv und weltfremd dargestellt, sie bescheinigt ihnen „Mangel an Mitgefühl“ gegenüber der arbeitenden und älteren Bevölkerung. Gleichzeitig wirft sie die „Lifestyle-Linke“ mit der Klimabewegung in einen Topf, mit den jungen Menschen von Fridays-For-Future. Ohne näher darauf einzugehen oder ihre Aussagen zu belegen, stellt sie Behauptungen in den Raum, indem sie zum Beispiel schreibt: „Ziemlich gnadenlos attackierte man auch die ältere Generation, die ob ihres Lebensstils als Hauptverursacher des Klimawandels ausgemacht wurde. Das Feindbild der »Boomer« – der Begriff steht für die Mitte der fünfziger bis Ende der sechziger Geborenen – wurde von der Bewegung sorgfältig gepflegt, und zwar ganz unabhängig davon, ob es sich um die Erben großer Betriebsvermögen mit Yacht und Privatjet oder um Menschen handelt, die nach einem harten Arbeitsleben einer bescheidenen Rente entgegensehen.“ Das perfide an der Aussage ist, dass es diese Verbalangriffe durchaus gab, dass sie allerdings Teil einer Auseinandersetzung sind, die es zwischen Generationen schon immer gegeben hat und dass die Differenzierungen, die es durchaus gab, einfach weggewischt bzw. pauschalisiert werden.
Dieser Auszug ist in mehrfacher Hinsicht interessant, weil hier nicht nur Aspekte vermischt werden, sondern weil Wagenknecht zusätzlich eine Neiddebatte anfacht und an dieser Stelle verdeutlich, mit welcher Gruppe, sie sich selbst – obwohl sie nicht dazugehört – gemein macht: mit jenen, „die nach einem harten Arbeitsleben einer bescheidenen Rente entgegensehen“. Diese Taktik wiederholt sich an vielen Stellen im Buch.
Sozialneid
Während alle, die nicht den „Lifestyle-Linken“ angehören, wahlweise als pragmatisch und vernünftig oder als „traurig dreinschauend“ dargestellt werden, bescheinigt Wagenknecht den „Lifestyle-Linken“ immer wieder Abgehobenheit und Realitätsferne. Das gipfelt in ihrer, als Kritik getarnten Darstellung des Publikums der „Unteilbar“ Demonstration: „Und man ist stolz darauf, sich dadurch von anderen Veranstaltungen zu unterscheiden, an denen Leute teilnehmen, denen man ansieht, dass sie nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, die mürrisch, zornig oder einfach traurig dreinschauen, sich auch nicht perfekt auszudrücken wissen, nicht gut angezogen und zuweilen adipös sind, wie in der linksliberale Presse dann gern mit herabsetzendem Unterton vermerkt wird.“ Auch hier wird wieder die Sozialneiddebatte entfacht, wird die Gruppe der Unteilbar-Teilnehmenden diskreditiert, während die anderen zu „armen Opfern“ stilisiert werden. Ohne, dass man diese Behauptungen in irgendeiner Form prüfen kann, (Es ist wohl davon auszugehen, dass Leser*innen des Buches kaum eine soziologische Untersuchung der Proteste vornehmen.), werden Ressentiments geschürt und Sahra Wagenknecht erhebt sich auch hier zur Fürsprecherin der angeblich von den Lifestyle-Linken verlachten Gruppe. Dass diese „bunte Mischung“ ebenso für die Corona-Proteste galt, erwähnt sie nicht.
Eine weitere, um es mit dem Wort Müller-Voggs zu sagen, „Masche“ ist, den Lifestyle-Linken ein „Heimlich-wissen-sie-es-ja-auch-Gesinnung“ vorzuwerfen. So als wüssten sie alles, was Sahra Wagenknecht auch weiß, behalten es aber für sich, weil es nicht ins eigene Bild passt. So führt sie auf Seite 59 aus: „Als die ehemalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles im Jahr 2018 anzumerken wagte, dass Deutschland nicht alle Zuwanderer aufnehmen könne, erntete sie einen Sturm der Entrüstung und wurde öffentlich beinahe hingerichtet. Dass Nahles gleichzeitig Ministerin in einer Regierung war, unter der mit Ausnahme der Phase 2015/16 keineswegs jeder, der wollte, einfach einwandern konnte, sondern Asylanträge immer auch abgelehnt und Migranten abgeschoben wurden, regte dagegen kaum jemanden auf. Sagen durfte man das nicht, tun schon – vielleicht, weil auch Lifestyle-Linke insgeheim wissen, dass alles andere ins Chaos führen würde.“ Man sagt also nicht, was man weiß, sondern täuscht bewusst die anderen. Das ist geschickt formuliert, denn damit bezichtigt Sahra Wagenknecht die Lifestyle-Linken zwar nicht der Lüge, unterstellt ihnen aber, zu täuschen. Und gleichzeitig bedient sie wieder das Opfer-Narrativ der Gruppe, die getäuscht wird. Aber in der Formulierung verstecken sich neben der benannten Masche noch weitere Techniken: 2015/16 war tatsächlich eine Ausnahme, allerdings in einem anderen Sinne, als Sahra Wagenknecht es hier suggeriert. Zwar gab es einen deutlich erhöhten Zustrom Geflüchteter aus Ungarn über Österreich nach Deutschland, aber auch diese Geflüchteten mussten sich registrieren und im Vergleich zu den Vorjahren wurden deutlich mehr von ihnen abgeschoben.
Verdrehung von Fakten
Ihre Königsdisziplin findet Wagenknecht in der Verdrehung von Fakten, wobei die Frage offenbleibt, ob sie das wirklich bewusst eingesetzt oder es dem Umstand geschuldet ist, dass es sich um ein Sachbuch und nicht um eine wissenschaftliche Arbeit handelt. Jedenfalls erscheint es beim kritischen Lesen so, als ob Fakten immer dort, wo sie ins Narrativ passen, herangezogen oder verdreht werden. Unter der Überschrift „Ohne Abi keine Chance“ behauptet sie zum Beispiel, dass Berufsabschlüsse unterhalb des Abiturs hierzulande keine solide Lebensperspektive mehr eröffnen würde. Diese Aussage ist – man könnte fast sagen „grob fahrlässig“ pauschalisiert und geht auch am eigentlichen Problem vorbei. Abgesehen davon, dass sie in diesem Kapitel einmal mehr Vorbehalte gegen Abiturienten nährt, stimmt diese Aussage nicht, zumal sie nur ein paar Seiten weiter schreibt, dass die Zeiten, in denen ein Hochschulabschluss ein halbwegs verlässliches Ticket für den Eintritt in ein gutes Leben war, auch vorbei sind. „Aber auch, wer sein Studium mit guten Noten abschließt, kann arm enden.“
Um auf der Linie der Nichtpriviligierten zu bleiben, heißt es dann weiter: „Das neue Bildungsprivileg besteht darin, dass heute in den gut bezahlten akademischen Dienstleistungsberufen Fähigkeiten und Qualifikationen verlangt werden, die man auf dem staatlichen Bildungsweg schlicht nicht erwerben kann.“ Das fließende Englisch, dass heutzutage angeblich in den „lukrativen Akademikerjobs“ gefordert wäre, könne sich selbst der „fleißige Schüler“ im normalen Lernprogramm nicht aneignen, sondern stünde nur den Kindern wohlhabender Eltern offen. Belege dafür liefert Sahra Wagenknecht nicht. Sie verschweigt auch, dass die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen durch den Zugang zum Internet eine niedrigschwellige Lernmöglichkeit haben und nutzen, indem sie englischsprachige Serien oder Filme im Original schauen.
Die Macht der Emotionen
Sahra Wagenknecht versteht es sehr geschickt, auf der Gefühls-Klaviatur ihrer Leser- und Zuhörer*innenschaft zu spielen. Gekonnt facht sie die Wut und Frustration über die Zustände, die zunehmende soziale Ungleichheit oder den Mangel an politischer Repräsentation an. Eine große Rolle spielt neben Wut und Frustration auch die Angst, die sie immer wieder schürt, indem sie davon schreibt, dass es bei einer Politik, die nicht vorausschauend und nachhaltig, sondern nur „en vogue“ ist, zwangsläufig Verlierer gibt.
Spannend an der Stelle, dass sie das, was sie selbst ausgiebig praktiziert, nämlich Argumente durch Emotionen zu ersetzen, den Lifestyle-Linken vorwirft. Weiter beklagt sie, dass sich die Diskussionskultur verabschiedet hätte und Emotionen Inhalte und Begründungen ersetzen würden und bescheinigt pauschal, „dass unsere Gesellschaft verlernt hat, ohne Aggression und mit einem Mindestmaß an Anstand und Respekt über ihre Probleme zu reden. Sehr richtig merkt sie an, dass „der Weg von verbaler Aggression zu handfester Gewalt“ kurz ist, bedient sich aber selbst einer Rhetorik, mit Sicherheit bei einigen Hass, Neid und Angst hervorruft, wie man auf vielen Corona-Demonstrationen und auch der von ihr organisierten „Aufstehen für den Frieden“-Demonstration sehen konnte, bei denen immer auch wieder Pressevertreter*innen angegriffen wurden. Auch tragen Formulieren wie „Linksliberale Überheblichkeit nährt rechte Terraingewinne“ sicher nicht zu sozialem Frieden bei.
Fürsprecherin der Unterdrückten und Betrogenen
Viel wird derzeit die Frage kommentiert, ob Wagenknechts Partei der AfD Stimmen abnimmt. Dazu kann man zunächst sagen, dass sie sich mit ihrer Ausrichtung in eine bunt gemischte Gruppe einreiht, die es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hat, gegen die drohende Übermacht eines imaginären neuen ideologischen Linksliberalismus aufzubegehren. Dazu zählen Medien wie Die Welt, Bild, Kolumnistin Anna Schneider, Ulf Poschardt, aber auch Mitglieder der CDU/CSU, Markus Söder, Hubert Aiwanger und die Mitglieder und die Sympathisanten der AfD.
In einem Gastbeitrag für die ZEIT schreiben die Autor*innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey dazu: „Was wir derzeit beobachten können, ist eine im Entstehen begriffene politische Matrix des Anti-Linksliberalismus, in dem sich die Lager teilweise neu sortieren. Es ist erstaunlich, wie einig sich Konservative und Traditionslinke, Libertäre und ehemals Liberale sein können – und wie viel Zustimmung sie auf der Rechten finden. Der Anti-Linksliberalismus kann zu neuen ideologischen Überkreuzungen, unwahrscheinlichen Assoziationen und temporären Koalitionen mit Gegnern aus früheren Zeiten führen.“
In den Augen der unter dem Feindbild vereinten, droht die Gefahr nicht etwa durch einen immer schneller voranschreitenden Klimawandel oder durch Hyperkapitalismus, sondern zeigt sich in Gestalt von Lastenfahrrad fahrenden Lifestyle-Linken, die anderen alles verbieten wollen, sie der Freiheit berauben wollen, Werte, die einst gesellschaftlicher Konsens waren, verraten, damit spalten, den sozialen Frieden und unser aller Wohlstand gefährden.
Die Techniken oder die „Masche“, die Sahra Wagenknecht anwendet, um politische Botschaften zu vermitteln und den politischen Diskurs zu beeinflussen, hebt sich kaum von der meinungsstarker Wortführer*innen ab, die aus der rechten Ecke heraus in dasselbe Horn blasen. Gleichzeitig scheint sie auf eine gewisse Art unabhängig davon zu sein, zeigt sich streitbar und rebellisch und hat kein Problem damit, in einer Talkshow-Runde eine Minderheitenmeinung zu vertreten oder andere Gäste zu belehren. Auf jeden Fall wird sie mit ihrer neuen Partei das rechte Bündnis stärken, statt ein neues linkes zu etablieren.
Das Tragische daran ist, dass die Ungerechtigkeiten, die sie benennt, ja wirklich vorhanden sind, ebenso die Spaltung der Gesellschaft. Das aber den woken Lifestyle-Linken in die Schuhe zu schieben und die eigentlichen Verursacher oder Ursachen mit einer Eliten-Kritik zu vermischen, ist eine Taktik, die meiner Ansicht nach darauf abzielt, Ressentiments zu schüren und die Fühler nach einer geeigneten Gefolgschaft auszustrecken.
Sahra Wagenknecht hat vor gar nicht allzu langer Zeit in einem Interview bekanntgegeben, dass sie sofort von ihrem Vorhaben, eine eigene Partei zu gründen, zurücktreten würde, wenn die Partei Die Linke sich von Grund auf – auch personell – verändern würde. Nun gründet sie und man darf gespannt sein, ob und wie das die Parteienlandschaft verändert.
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