Das Licht vor meinem Fenster ist milchig gelb an diesem Samstagmorgen. Ganz ohne Saharastaub, sondern weil sich – wie ich gerade mit einem Klick gelernt habe – in den hoch am Himmel stehenden Wolken viele Eiskristalle oder Wassertropfen befinden, die wiederum von der Sonne angestrahlt, das Licht brechen. So kommt es zur Streuung, was diesen Gelbstich erzeugt. Wieder was gelernt.
Wissen ist heutzutage eine stets und vor allem rasant schnell verfügbare Ware. Erst neulich habe ich mich mit meinem Mann über die Zeiten unterhalten, als unsere Eltern noch mit Begeisterung die neuesten Brockhaus-Ausgaben bestellten. Für mich – damals in der DDR lebend – war eine Ausgabe von „Von Anton bis Zylinder – das Lexikon für Kinder“ der ganze Stolz. Wissen war elitär, wenn es keine Bücher im Haus gab, wenn man nicht las, die Eltern sich mit den Kindern nicht austauschten, blieben viele trotz Schule von einem breiten Wissensschatz ausgeschlossen.
Heute ist das anders. Heute reicht ein Blick ins Smartphone, um Antwort auf jede Frage dieser Welt zu bekommen. Einfacher ist es dadurch nicht, denn nun stehen wir vor der Herausforderung, aus der Fülle an Antworten, die das Netz bereithält, die richtige auszuwählen.
Während der Brockhaus noch klar und eindeutig war – was da drin stand, war in Stein gemeißelt –, sind wir heute zunehmend mit Antwort-Optionen konfrontiert. Nach dem Motto: Such Dir aus, was Du glauben willst. Der Himmel ist gelb, weil…
Bei naturwissenschaftlichen Phänomenen herrscht noch eine gewisse Einigkeit, aber selbst die gerät durch „alternative Fakten“ mehr und mehr in Bedrängnis. Ich kann verstehen, dass Menschen da nicht mehr durchsehen, dass sie sich wieder nach Eindeutigkeit sehnen, nicht hunderte, sondern eine Antwort haben wollen. Aber diese Zeiten sind vorbei. Die meisten Brockhaus-Ausgaben verstauben in Regalen.
Ist das Fortschritt? Streng genommen ja, denn die schnelle und umfassende Verfügbarkeit von Wissen bereichert unser Leben. Auf der anderen Seite überfordert sie die meisten schon jetzt. Und das wird nicht besser werden, wenn KI das digitale Ruder übernimmt.
Die Wahl am letzten Sonntag hat diese Überforderung ziemlich eindeutig dokumentiert, denn gewonnen haben vorrangig die Angst vor Veränderungen, der Wille, an einfachen Antworten festzuhalten und eine komplexe, globale Welt auf Wunschdenken, Meinung und Glauben herunterzubrechen.
„Die deutsche Bevölkerung ist heute eine fragile, ängstliche und weitgehend erstarrte Bevölkerung“, sagte der Sozialwissenschaftler und Publizist Meinhard Miegel schon 2016 in einem Vortrag. Nun trifft das nicht mehr nur auf die deutsche Bevölkerung zu, wie die Zahlen aus anderen Ländern zeigen. Aber hierzulande trifft diese Starrheit und Angst auf ein historisches Erbe. Eine gefährliche Mischung, die bei vielen die dunkelste Seite triggert. So entsteht aus der Angst vor dem Fremden und vor dem Neuen: Abwehr. Und das auf allen Seiten. Dort, wo man gebildet ist und meint, es besser zu wissen und dort, wo man verängstigt auf etwas schaut, das man sich nicht erklären kann.
Ich will Dich am Samstagmorgen nicht mit meiner Wahlanalyse langweilen. Der Himmel vor meinem Fenster ist auch nicht mehr gelb, die deutsche Nationalmannschaft hat gestern einen fulminanten Sieg eingefahren und damit wahrscheinlich mit jedem Tor die Komplexität und die Überforderung für eine kurze Zeit reduziert. Fußball kann das, darum lieben ihn so viele Menschen.
Was ich Dir aber mit in den Tag geben möchte, ist etwas, das mir hilft, an den Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht zu verzweifeln und vor allem, was mir hilft, aus meiner eigenen Abwehr gegen die, die anders sind, herauszukommen. Es ist das Gefühl der Verbundenheit.
Es gibt in uns etwas, das uns alle verbindet. Etwas, das alle Unterschiede, die man auf der Oberfläche sehen und analysieren kann, auflöst. Etwas, das wir alle, egal ob rechts oder links, Fremder oder Freund teilen: Es ist die tiefsitzende Sehnsucht danach, anerkannt und geliebt zu werden.
Und wenn Dir dieser Bogen vom Wissen, über alternative Fakten, über den Wahlausgang und hin zur Anerkennung zu groß oder zu konstruiert erscheint, dann lade ich Dich ein, kurz mal innezuhalten und Dich auf die Suche nach dieser Verbundenheit zu begeben und sie zu spüren.
Und vielleicht gibst Du mir recht, dass sie – wenn wir sie zulassen – dazu beiträgt, jenen Raum der Möglichkeiten zu öffnen, von dem im letzten Newsletter die Rede war. Ein Raum, der die Starre löst und Bewegung ermöglicht.