Warum die Abnabelung von den Eltern so wichtig ist
Wieso gerate ich immer an den/die Falsche*n? Was hindert mich daran, treu zu sein? Weshalb raste ich immer gleich aus, wenn mein Partner sich so oder so verhält? Warum finde ich keinen Partner*in? Was ist der Grund dafür, dass ich nicht bedingungslos lieben kann? All das sind Fragen, die sich mit einem ehrlichen Blick auf die Beziehung zu den eigenen Eltern klären lassen. Denn auch wenn wir längst erwachsen sind – das Kind in uns will von den Eltern geliebt und anerkannt werden. Diese Verstrickungen sollten wir auflösen, um frei für das Leben zu sein.
Ein Beispiel aus der Praxis
„Ich habe das Gefühl, dass mein Vater immer hinter mir steht. Dass er meine Rolle als Frau beurteilt.“ Die Frau, die diesen Satz sagt – nennen wir sie Anja –, sieht erschöpft und verzweifelt aus. So als hätte sie schon viele Jahre gekämpft. Dabei war ihr Vater lange tot. Die Therapeutin erzählt Anja eine Geschichte aus dem Zen.
Der Schüler fragt den Meister, wie er es schaffen kann, sich von dem, was ihn an die Vergangenheit bindet, zu lösen. Daraufhin läuft der Meister zu einem Baum, umarmt diesen und jammert laut: „Meister, Meister, sag mir was ich tun soll, damit der Baum mich loslässt.“
Quelle unbekannt
Die Botschaft ist klar: Wer sein Leben leben will, muss die Eltern loslassen. Erst dann ist man frei für die Liebe. Wir müssen erkennen und fühlen, dass sie uns nichts schuldig geblieben sind.
Wie ist das mit der Liebe?
Liebe ist eine alles umfassende Erfahrung. Niemand kommt an ihr vorbei, weil jeder Mensch lieben und geliebt werden will. Liebe ist unsere Natur, unsere größte Kraftquelle. Leider ist der Zugang zu dieser Quelle durch unsere Erfahrungen oft versperrt. Und manch eine*r bemüht sich sein Leben lang, diesen Zugang freizulegen, ohne die wahre Ursache anzugehen: die Beziehung zu den eigenen Eltern. Noch nie in der Geschichte der Menschheit waren und sind wir so lange mit unserer Eltern verbunden. Gehen wir von einer durchschnittlichen Lebenserwartung aus, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass unsere Eltern noch leben, wenn wir selbst die Rente erreichen.
Die Sicht des Kindes
Aber beginnen wir am Anfang. Dort wo das Leben entsteht, denn schon die Art, wie wir gezeugt wurden, prägt uns. Sind wir ein Kind der Liebe? Ein Kind, das im Reagenzglas entstanden ist? Das Ergebnis eines One-Night-Stands? Der Verlauf der Schwangerschaft – alles, was die Mutter wahrnimmt, fühlt und erlebt, beeinflusst unser Sein, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. Da geht es auch nicht um Beurteilung, sondern immer nur um Einordnung. Wissenschaftler können mittlerweile sehr detailliert nachweisen, wie unsere Gene durch Stress oder andere Faktoren bestimmt werden.
Später dann als Säuglinge richten wir unsere gesamte Aufmerksamkeit, unsere gesamte Liebe auf die ersten festen Bezugspersonen – also meist auf die Eltern. Wir lieben sie bedingungslos und niemand muss uns dieses Gefühl beibringen. Vielleicht weil wir grundsätzlich als liebende Wesen in das Leben starten. Und weil wir intuitiv wissen, dass diese Menschen im besten Fall dafür sorgen werden, dass wir die Monate, in denen wir hilflos und abhängig sind, überleben.
Aber genau an dieser Stelle beginnt das menschliche Dilemma, die Abhängigkeit. Denn während wir als Kind bedingungslos lieben, sind wir den Eltern ausgeliefert, ja existenziell darauf angewiesen, von ihnen versorgt zu werden. Und schon wird aus der Liebe ein Tauschgeschäft. Zwar lieben Kinder immer noch bedingungslos, gleichzeitig aber tun sie alles, was in ihrer Macht steht, um von den Eltern wahrgenommen, geliebt und umsorgt zu werden. Von „guten“ ebenso wie von „schlechten“ Eltern, wobei diese Beurteilung ganz klar ihre Tücken hat.
Spiegelungen
Kinder nutzen die Reaktionen der Eltern wie ein Barometer oder einen Spiegel für das eigene Handeln.
Guckt Mama böse, muss ich mich noch mehr anstrengen. Ist Papas Stimme laut, muss ich ganz still sein, oder am besten noch lauter brüllen, damit man mich nicht vergisst. Hat Papa die Familie verlassen, muss ich ganz brav zu Mama sein, weil sie Kummer hat.
So prägt das, was zwischen Kind und Eltern abläuft, nicht nur die Beziehung selbst, sondern vor allem zunächst das kindliche Verhalten. Wir verinnerlichen diese „Gefallmuster“. Und nicht nur sie, sondern auch das, was wir von unseren Eltern angenommen und gelernt haben. Die Art, wie sie uns erzogen haben, wie sie unsere Liebe beantwortet haben. Oder auch nicht.
Ob und wie sie für uns da waren, wie sie unsere Bedürfnisse erkannt und erfüllt haben, die Werte, die sie uns vermittelt haben, die Geschichten, die eigenen Schmerzen und Verstrickungen, die sie an uns weitergegeben haben – all das tragen wir in uns. Und als Erwachsene damit tagtäglich in alle anderen Beziehungen mit hinein. In die zu unseren Partnern, zu unseren Kindern, in die Beziehung, die wir zu uns selbst und zu unserem Umfeld leben.
Gleichzeitig übernehmen wir kindlich unreflektiert und unbewusst die Liebes-Muster der Bezugspersonen, sowie die der Gesellschaft. Wir schaffen uns ein Bild davon, wie Liebe zu sein hat und noch bevor wir dieses Gefühl als selbstständige Wesen ganz bewusst wahrnehmen und spüren, wohnen in uns bereits zigtausend Erwartungen, Meinungen, Überzeugungen darüber, was Liebe ist und wie sie für uns zu sein hat.
Der Punkt Selbstverantwortung
Ein weiterer Punkt – etwas das bei Aufarbeitungen gern „vergessen“ wird, ist die eigene Verantwortung an der Elternverstrickung. Kinder merken sehr schnell, wie sie manipulieren, den anderen um den Finger wickeln können. Sie entwickeln früh ein Gespür dafür, wer im Familiengefüge „schwach“ ist, wen man ausnutzen oder herabsetzen kann. Diese Verhaltensmuster werden ebenso eingesetzt, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Allerdings auf eine destruktive Weise und so werden aus Opfern Täter und aus Liebe wird Verachtung oder Besitzdenken. Diese Mechanismen sind oft schwer zu durchschauen, weil sie nicht bewusst sind und natürlich gern verleugnet wird, dass man an einem Problem auch einen eigenen Anteil trägt.
Die Eltern in uns
Den meisten Menschen ist es nicht bewusst, wie sehr sie ihre Eltern „verinnerlicht“ haben und dass viele Probleme und akute Reibungspunkte aus diesem inneren Bild heraus entstehen. Dass das eigene Wesen, der eigene innere Erwachsene gar nicht hervortreten kann, weil er vom Introjekt der Eltern belegt ist. Unabhängig davon, ob wir Kontakt zu ihnen haben oder nicht, führen Mama und Papa ein Schattendasein in uns. Sie besetzen den Regiestuhl unseres Lebens so lange, bis wir uns mit diesem Teil unserer Geschichte auseinandersetzen und die Eltern loslassen, wobei loslassen nicht abkehren oder ablehnen, sondern eigentlich integrieren bedeutet.
Liebe im Elternmodus
Besonders schmerzhaft und deutlich zeigen sich „Elternverstrickungen“ in unseren Paarbeziehungen. Hier bestimmen sie, wen wir auswählen, wie wir mit ihm oder ihr umgehen. Hier zeigen wir selten unser eigenes Gesicht, sondern eher das, was man uns über uns selbst beigebracht hat. So schlittern wir unbedacht aber zielsicher in Ehen oder Partnerschaften, die uns unsere Elternbeziehung spiegeln. Oder wir vermeiden feste Partnerschaften. Gehen nur lose Verbindungen ein, weil wir in unserer Elternbeziehung gelernt haben, dass zu lieben sehr schmerzhaft sein kann.
Wer also die Liebe finden will – eine, die auf den eigenen Bedürfnissen und Wesenseigenschaften gründet –, muss sich mit seiner Elternbeziehung auseinandersetzen. Liebe, die aus sich selbst heraus sprudelt, die Liebe, mit der wir eigentlich in dieses Leben gestartet sind, lässt sich nur finden, wenn wir „den Baum loslassen“. Wenn mir mit diesem Akt das energetische Band kappen, damit nicht zuletzt auch die Liebe zu den Eltern und die allumfassende Liebe, die das ganze Leben einschließt, wieder frei sein darf.
Liebe heißt Leben. Wer liebt, der lebt.